Fundstücke (3): Als Willi Ertz den Bayern den Angstschweiß auf die Stirn trieb

Sie ist ziemlich vergilbt, die Ränder leicht ausgefranst, ansonsten aber noch gut erhalten, die „kicker“-Ausgabe vom 22. Juni 1964. Für 80 Pfennig konnte man sie seinerzeit erwerben, und in und um Neunkirchen wird sie im Zeitschriftenhandel und in den Kiosken sicher weggegangen sein wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Denn in diesem Heft berichtet der „kicker“ von einem der bis heute größten Tage in der Historie der Borussia: Mit dem sensationellen 2:0-Sieg im Stadion an der Grünwalder Straße über den hoch favorisierten FC Bayern München legten die Männer aus dem Ellenfeld am 20. Juni 1964 den Grundstein zum erstmaligen Aufstieg in die Fußball-Bundesliga. Der „kicker“, nach eigenem Verständnis damals „die deutsche Fußball-Illustrierte“ und noch nicht mit dem „Sport-Magazin“ vereinigt, widmet dem Geschehen in den beiden Gruppen der Aufstiegsrunde mit insgesamt 8 Seiten knapp ein Drittel seines noch relativ bescheidenen Umfangs. Mit vielen Fotos, zeitgemäß ganz in Schwarz und Weiß.

Schon auf dem Titel wird der Leser auf die in beiden Gruppen spannende Ausgangssituation aufmerksam gemacht: „Jeder kann noch aufsteigen!“, prangt es einem in weißen Lettern auf rotem Grund sofort entgegen. Ganz besonders knapp war die Lage nach vier von sechs Spieltagen in der Gruppe 1, wo alle vier Teams (FC Bayern, Tasmania Berlin, FC St. Pauli und die Borussia) nur durch zwei Punkte getrennt waren. Da war in der Tat noch alles drin!

Der Hauptgrund: Borussias 2:0 bei den Bayern. Denn die hätten, so „kicker“-Berichterstatter Hans Schiefele, „nach einem Sieg schon ihre neuen Visitenkarten drucken lassen können. Aber sie scheiterten an Neunkirchen! Damit hatte niemand gerechnet.“ Das Spiel der Bajuwaren gestaltete sich als ein einziges „Hätte, wenn und aber“: „Wenn Brenningers Schuß in den ersten zehn Minuten nicht an den Außenpfosten gekracht wäre, wenn Brenninger den Ball aus einem Meter Entfernung über die Linie gebracht hätte, wenn … dann wären die Münchener schon nach einer Viertelstunde mit 4:0-Toren in Führung gegangen“, ist im Sonderbericht auf Seite 5 zu lesen. Doch dem „kicker“-Beobachter war nicht entgangen, dass in den Reihen der Borussen vor allem ein Mann geradezu das Spiel seines Lebens machte: „Ertz hielt alle Bayern-Schüsse“ heißt es in der Überschrift. Und weiter: „Einzig bei Torwart Ertz können sich die gewiß tapferen und auch cleveren Borussen bedanken, dass sie vor einem frühzeitigen Rückschlag bewahrt blieben. Kirsch bekam wegen seines bevorstehenden Examens keinen Urlaub, sein Stellvertreter Ertz machte nicht einen Fehler, trieb den Bayern den Angstschweiß ins Gesicht.“ Die Bestnote bekommt auch Erich Leist: Vom Ex-Marpinger heißt es, er habe die Abwehr hervorragend geführt und gegen die immer wieder durch die Mitte Erfolg suchenden Bayern rechtzeitig formiert. Auch der eisenharte Günter Schröder wird hervorgehoben: „Ein Musterbeispiel für hingebungsvollen Einsatz“, allerdings auch „mit einem Dutzend Fouls ohne ernsthafte Verwarnung“ durch Schiedsrichter Niemeyer aus Bad Godesberg.

Der zweite Borussen-Angriff nach 23 Minuten habe, so der „kicker“, zum 0:1 geführt, „als Kunstwadl den Kopfball von Melcher mit der Hand abwehren musste. Gegen Ringels Strafstoß war kein Kraut gewachsen. Nach diesem Führungstreffer machten die Neunkirchner erst recht dicht. Ringel, der zwar die Nummer 9 trug, und Melcher schirmten hinten ab, Pidancet war Sturmspitze.“ Der junge Franz Beckenbauer hatte sich seiner angenommen. Die Bayer hätten, vom erfolglosen Anrennen „deprimiert elf Minuten vor Schluß die endgültige Entscheidung hingenommen. Sie protestierten nicht einmal, weil Torschütze Kuntz klar im Abseits gestanden hatte.“ Eine Situation, die allerdings sogar für den Mann an der Führungskamera des Bayrischen Rundfunks zu schnell ging: Die Fernsehaufzeichnung konnte lediglich Zeitlupenbilder aus der Hintertor-Perspektive zeigen – eine Abseitsstellung ist hier natürlich nicht zu erkennen. Und den Kölner Videokeller hätte sich in dieser Zeit kein Funktionär auch nur in kühnsten Träumen vorstellen können!

Natürlich äußerte sich Borussen-Coach Horst Buhtz nach den 90 Minuten mehr als zufrieden: „Meine Mannschaft hat taktisch klug gespielt. Ertz wuchs über sich hinaus. Zur Tüchtigkeit kam auch das Glück. Die Bayern fanden kein Rezept, ihre Flügelstürmer hatten zu wenig Wirkung“, diktierte der Trainer dem „kicker“-Reporter in den Notizblock. Sein Gegenüber Tschik Cajkovski blieb trotz der Niederlage optimistisch: „Wir werden daraus lernen, haben nach wie vor alle Trümpfe selbst in der Hand.“ Sein Präsident Wilhelm Neudecker haderte mit manchen Entscheidungen des Unparteiischen, wollte aber „die große Abwehrleistung des Gegners dadurch nicht geschmälert“ wissen.

Für die Borussen stand jetzt vor den noch ausstehenden Spielen auf St. Pauli und zuhause gegen Tasmania Berlin das Tor zur Bundesliga wieder offen. Die „kicker“-Prognose: „Borussia Neunkirchen steigt auf, wenn es gegen St. Pauli unentschieden spielt und Tasmania bezwingt. Gleichzeitig aber müßte Bayern München bei Tasmania verlieren und gegen St. Pauli unentschieden spielen. Gewinnt Borussia beide Spiele, würde Bayerns Niederlage in Berlin schon genügen!“ Die Borussen wählten den letzteren der beiden Wege: Nach einem 1:0 auf St. Pauli bei gleichzeitigem 0:3 der Bayern in Berlin und einem abschließenden 1:0 gegen Tasmania hieß der Aufsteiger am Ende: Borussia Neunkirchen! (-jf-)

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