„Wenn Leidenschaft Taktik mal in den Hintern tritt“

Vorrunde 2022/23: Ein ganz persönliches Plädoyer für die Saarlandliga

Uli Stielike hat die Nase gestrichen voll. Der Mann, der mit Borussia Mönchengladbach, Real Madrid und Xamax Neuchatel zu Meisterehren kam, der zweimal den UEFA-Cup gewann, 1980 mit Deutschland Europameister und 1982 Vizeweltmeister wurde, der als Trainer in Deutschland, Südkorea, der Schweiz, der Elfenbeinküste und in Katar arbeitete, hat sich in „Kicker-Sportmagazin“ (Ausgabe vom Donnerstag, 8. Dezember) so seine Gedanken zur WM und zum Fußball generell gemacht.

Dabei geht der 68jährige mit vielem kritisch ins Gericht: Ob Video-Assistent, Taktik oder Statistik-Wut, „unsere Sportart versteht bald niemand mehr. (…) Man ist gerade dabei, unseren Sport totzutechnisieren. (…) Tiki Taka wird zum Wischi-Waschi. Kommen demnächst noch mehr Daten? Wie oft und wieviel trinkt ein Spieler während des Spiels? Schwitzt ein Linksfüßer mehr als ein Rechtsfüßer? Verbraucht man mit Stollenschuhen mehr Energie als mit Noppen? (…) Mich nervt, wie der Fußball seine Ursprünglichkeit Schritt für Schritt verliert“, so der Fußball-Romantiker, der die zunehmende Kommerzialisierung und die zum großen Teil abstrusen und absurden Gehälter erst gar nicht anspricht. Dennoch hat er die Hoffnung auf Besserung nicht aufgegeben: „Wir müssen versuchen, die Dinge wieder auf ein normales Maß herunterzuschrauben.“

Vielleicht sollte Uli Stielike einmal in der Saarlandliga vorbeischauen. Was er dort erleben könnte: Eine hochspannende Tabellensituation, die es gleich acht oder sogar noch mehr Teams erlaubt, nach der Winterpause in den Aufstiegskampf einzugreifen. Mit der Folge, dass es nahezu an jedem Spieltag Spitzenspiele gibt, dass nahezu jeder gegen jeden gewinnen kann. Keine allzu weiten Fahrten, viele Derbys und Nachbarschaftsduelle, fast vier Tore im Schnitt pro Partie, Spieler, die vor den 90 Minuten Aufregung, Vorfreude und ein Zusammengehörigkeitsgefühl verspüren und dann – einer für alle, alle für einen – ihr Bestes zu geben versuchen, spielerisch wie kämpferisch. Keine Emotionskiller wie Video-Assistent oder Review-Area, kein nervtötendes Warten auf den Torjubel, sondern spontane Freude über erzielte Treffer. Traumtore, wie das von Marco Dahler aus 60 Metern beim 4:1 gegen Mettlach, Tore des Monats a là Mirco Zavaglia aus Quierschied beim 1:1 vor Jahresfrist im Ellenfeld. Die Zuschauer: Mittendrin statt nur dabei, ganz nah dran am Geschehen, nicht nur während der 90 Minuten, sondern auch hinterher in freundschaftlicher Atmosphäre bei einem Plausch mit den eigenen Jungs, aber auch mit gegnerischen Akteuren, ja selbst mit den Schiedsrichtern über das Geschehen auf dem Rasen. Dazu ein gepflegtes Pils und eine leckere „Roschtwurst“.

Spontaner Torjubel ohne VAR und Review-Area: In der Saarlandliga an der Tagesordnung, ob mit den Borussen Niklas Allenfort, Roman Torres und Tiziano Pompa (oben) oder Mettlachs André Paulus und Quierschieds Mirco Zavaglia (unten). (Fotos: -jf-)

Nicht zu vergessen all diejenigen, die sich im Hintergrund mit Leidenschaft und ganz viel Herzblut in ihren Clubs engagieren. Vorsitzende, die nicht in der VIP-Lounge sitzen und bei einem Tor verhalten klatschen, um sich im nächsten Moment wieder mit dem Finanzvorstand über die nächste Werbereise nach China zu unterhalten. Präsidenten, die sogar bereit wären, die Torwarthandschuhe anzuziehen und auszuhelfen, wenn der eigene Keeper nach der Nachschicht verschlafen hat. Helfer, die sich schon Tage vorher um die Spieltagsorganisation kümmern, die am frühen Morgen Bierkästen schleppen und Getränkestände befüllen, flinke Hände, die Frikadellen-Brötchen und Pommes zubereiten, Stadionsprecher und Mitarbeiter, die auf den Geschäftsstellen die Spielberichtsbögen ausfüllen und ausdrucken, die Schiedsrichter in Empfang nehmen, die sich um Sponsoren bemühen, in denen es auch in der 6. Liga nicht geht – alles der Liebe zum Spiel, der Liebe zu ihrem Verein, des Zusammenhalts wegen. „Ama“teure im echten und wahrsten Sinne des Wortes, leitet sich der Begriff doch vom lateinischen Wortstamm „ama“ ab, der „leidenschaftliche Liebe“ bedeutet! Danach muss man auch in den Vorständen nicht lange suchen: Bernd Gillet bei den Sportfreunden in Köllerbach, Kai Berrang in Quierschied, Ralf Weiser und die Seibert-Familie auf dem Kieselhumes in Saarbrücken bei Saar 05, Günter Klingler im Mandelbachtal beim SV Bliesmengen-Bolchen, Alwin Arm in Primstal, Gunther Persch und Jörg Eisenhuth im Ellenfeld – die Liste ließe sich, um hier keinen zu vergessen, beliebig fortsetzen! Menschen, die die Ärmel hockrempeln, um den Betrieb am Laufen zu halten. Fußball ganz nah an den Wurzeln. Wirkliches Ehrenamt, uneigennützige Erbringung gemeinnütziger Tätigkeit.

Doch genau das macht Uli Stielike zuversichtlich: „Meine Hoffnung ruht auf dem Amateurfußball. Dort, wo keine Spielerfrau ihre Gänsehaut in einer Instagram-Story posten muss, um ja auch in der Presse zu erscheinen. Wo sich keiner darüber beklagt, einmal im Jahr drei Stunden mit dem Bus zu einem Spiel fahren zu müssen. Weil er einfach glücklich und dankbar ist, gesund seinem Hobby nachgehen zu können. Fußball ist auch, wenn die Leidenschaft der Taktik mal in den Hintern tritt. Wenn jeder an seine Grenzen geht, auch im Wissen darum, dass es vielleicht trotzdem nicht zum Sieg reicht. Der Fußball muss auch Platz bieten für menschliche Fehler. Für eine vielleicht deftige, aber aufrichtige Sprache. Fußball muss gelebt werden, das Spiel muss Spaß machen. Nach diesem Fußball sehne ich mich, und der geht uns in Deutschland verloren.“

Worte eines international erfahrenen Fußballers, die mir aus der Seele sprechen. Auch wenn nicht alles Gold ist, was glänzt, auch wenn ich mir natürlich am liebsten Titel und Aufstieg für die Borussia wünsche: Vieles von dem, wonach sich Uli Stielike sehnt, kann man in der Saarlandliga finden. Einfach eine geile Liga, die ich schätzen, ja lieben gelernt habe. Eine Liga, die viel mehr Aufmerksamkeit verdient als die nur wenig mehr als 200 Zuschauer im Schnitt! Hoffen wir gemeinsam, dass die Fußballfreunde im Saarland 2023 wieder ihre Liebe zu dieser Liga entdecken – für mich die Bundesliga des Saarlandes! (-jf-)

Hintergrundinformation:

Welche Arbeit der Amateurfussball leistet, hat Ute Groth Anfang des Jahres 2022 in Zahlen aufgelistet. Die 40jährige ist seit 2007 Vorsitzende der DJK TuSa 06 Düsseldorf und wollte sich 2019 zur ersten DFB-Präsidentin wählen lassen, wurde aber zur Kandidatur nicht zugelassen. Die Kolumnistin der Website „Hartplatzhelden.de“ hat in einem Beitrag vom Februar 2022 die Relevanz des Amateurfussballs auch in Zahlen dargelegt: „Die rund 25.000 Vereine leisten eine Arbeit von großer Bedeutung. Vereine motivieren zum Sport und bilden den Nachwuchs aus. Wir holen die Kinder und Jugendlichen von der Straße, vermitteln Werte wie Teamwork, Kameradschaft, Disziplin, Engagement, Toleranz, Respekt, Fairplay. Wir arbeiten für Integration und Inklusion. (…) Dabei `erwirtschaften´ wir riesige Summen. 2019 betrug, laut DFB, die soziale und ökonomische Wertschöpfung durch den Amateurfußball 13,94 Milliarden Euro für das Gemeinwohl in Deutschland. Die Leistungen wurden erbracht mit 2,61 Milliarden Euro im sozialen Bereich, 5,73 Milliarden Euro direkte Beiträge in die Wirtschaft sowie 5,6 Milliarden Euro Einsparungen im Gesundheitswesen.“

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