Aus der traditionsreichen Ellenfeld-Historie / Teil 1: Eine Verschwörungstheorie hält sich hartnäckig
Unser Bild: Trotz großer Erfolge in den letzten fünf Jahren vor Einführung der Bundesliga (hier eine Szene mit Uwe Seeler und Günter Schröder beim 3:0 der Borussia im Endrundenspiel um die Deutsche Meisterschaft gegen den Hamburger SV) muss Borussia 1963 zunächst draußen bleiben. (Foto: Ellenfeld-Verein / Archiv Borussia Neunkirchen)
28. Juli 1962. Tatort: Goldsaal der Westfalenhalle. Nur einen Steilpass entfernt von der „Roten Erde“, der damaligen traditionsreichen Spielstätte der Dortmunder Borussia. Der Bundestag des DFB hat seine Delegierten gerufen – und die kamen und fällten die womöglich wichtigste sportpolitische Entscheidung der deutschen Nachkriegsgeschichte: Die Einführung der Bundesliga zum 1. August 1963. Nur 26 der 129 Funktionäre votierten gegen die Neueinrichtung einer bundesweit höchsten Spielklasse, die die bis dato fünf gleichberechtigten regionalen Oberligen ablösen sollte – die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit war damit erreicht. Ein Ergebnis, das nach vielen zum Teil sehr kontroversen Diskussionen im Vorfeld in dieser Deutlichkeit nicht unbedingt zu erwarten war. Bewerbungsschluss für die neue Liga war der 1. Dezember 1962.
46 Bewerbungen für die neue bel etage des deutschen Fußballs gingen bis dahin beim DFB ein. Der Verband hatte nun die Aufgabe, 16 Clubs nach möglichst objektiven Kriterien auszusieben – die reinste Lotterie! Der damalige DFB-Präsident Wilfried Gerhardt ahnte, was auf ihn zukommen würde: „Machen Sie sich dabei mal keine Feinde!“
„Wer dieses Qualifikationsverfahren kompliziert nennt, untertreibt maßlos“ urteilt Boris Herrmann in seinem mit „Rechnen bis zum Wunschergebnis“ überschriebenen Beitrag in Klaus Höltzenbeins Bundesligabuch „15:30“, das 2013 anlässlich des 50. Jubiläums der Liga erschienen ist. Wie das konkret aussah? Jeder Verein, der zwischen 1951 und 1963 in einer der fünf Oberligen (mit je 16 Clubs) spielte, erhielt pro Saison drei Punkte. Dem Erstplatzierten der Abschlusstabellen wurden 16 Zähler gutgeschrieben, dem Zweiten 15, dem Dritten 14 und so weiter. Die Punkte aus den Jahren 1956 bis 1959 wurden doppelt, jene von 1960 bis1963 dreifach gewertet. Für die Platzierungen in den Endrunden um die Deutsche Meisterschaft gab es weitere Bonuspunkte. Meister und Pokalsieger bekamen ferner 20 Punkte obendrauf, die Finalisten zehn – außer im Jahr 1963, da wurden keine Sonderpunkte verteilt.
Zentrales Element der festgelegten Zwölf-Jahres-Wertung sei auch gewesen, dass die Kriterien vor den Vereinen zunächst geheim gehalten wurden. Über den tatsächlichen Einzug in die Liga entschied am Ende eine fünfköpfige Findungskommission um den späteren DFB-Präsidenten Herman Neuberger, der damals noch dem Saarländischen Fußballverband vorstand. Mit dabei: Ludwig Franz (1. FC Nürnberg), Franz Kremer (1. FC Köln), Willi Hübner (Essen) und Walter Baresel (Norddeutscher Verband). Dieser „Rat der fünf Weisen“ entwickelte neben den sportlichen eine Reihe von Zusatzkriterien. Tradition, Stadiongröße und wirtschaftliche Lage wurden ebenfalls mit einbezogen wie ein regionaler Proporz, der dem Südwesten lediglich zwei Bundesligaclubs zugestand. Doch wie diese zusätzlichen Faktoren konkret bewertet wurden, so Boris Hermann im oben genannten Beitrag, sei wenig transparent gewesen. Das bestätigen auch Paul Burgard und Ludwig Linsmayer in ihrem sehens- und lesenswerten Bilderbuch „90 Minuten – Mit Ferdi Hartung in die Bundesliga / Band 1: Borussia Neunkirchen“: „Was genau die vereidigten Wirtschaftsprüfer bei den Bewerbern unter die Lupe zu nehmen hatten und wann man eine bundesligareife Vereinsökonomie aufweisen konnte, darüber wurde in Fußball-Deutschland öffentlich kaum ein Wort verloren. Aber auch die Bewertung der sportlichen Situation (…) ließ viele Fragen offen.“
Viele Borussen glaubten 1963 an eine Verschwörung – und ein Jahr später nach dem Aufstieg der Borussia und dem gleichzeitigen Abstieg des 1. FC Saarbrücken an ausgleichende Gerechtigkeit, wie es diese Grußbotschaft an die Adresse des alten Rivalen vor dem Ellenfeld zeigt. (Foto: Ellenfeld-Verein / Archiv Borussia Neunkirchen)
Als die finale Entscheidung über die 16 Gründungsmitglieder der Bundesliga gefällt wurde, schauten die Neunkircher Borussen ebenso wie Südwest-Rivale FK Pirmasens in die Röhre. In die neue Spielklasse aufgenommen wurden der 1. FC Kaiserslautern und der 1. FC Saarbrücken. Im Ellenfeld konnte das keiner verstehen. „Die Borussia ist von 1912 bis 1963 nie abgestiegen, war immer erstklassig, sieben Jahre länger als der Hamburger SV. Und dann müssen wir da raus, weil irgendetwas Neues konstruiert wurde“, echauffiert sich Professor Dr. Jens Kelm noch heute. Borussias Stadionbeauftragter und Archivar hat drei Jahrzehnte nach Bundesligagründung den DFB noch einmal um Aufklärung über die Bewertung der Auswahlkriterien gebeten – auf Antwort wartet man im Ellenfeld im Jahre 2023 immer noch. Kein Wunder, dass sich deshalb hartnäckig eine Verschwörungstheorie hält, die besagt, DFB-Funktionär und Sportjournalist Hermann Neuberger aus Saarbrücken habe „seinen“ 1. FCS in die Bundesliga hieven wollen. Die Aufnahmekriterien seien bewusst schwammig konstruiert worden, um jede Zulassung und jede Absage irgendwie begründen zu können. Boris Hermann stellt in besagtem Beitrag dabei vor allem die Frage: Warum eigentlich Zwölf-Jahres-Wertung? Und nicht zehn- oder vierzehn Jahre? Und verweist dabei auf einen schon eigenartig anmutenden Zufall: Der 1. FC Saarbrücken stand zwölf Jahre vor Gründung der Bundesliga letztmalig in einem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft – 1952 verloren die Malstätter in Ludwigshafen gegen den VfB Stuttgart mit 2:3. Diese Finalteilnahme habe den Blau-Schwarzen genau jene zehn Bonuspunkte verschafft, mit denen sie sich in der Wertungstabelle an Pirmasens und der Borussia vorbeischob. (Fortsetzung folgt)
Zwölfjahreswertung von 1963 zur Ermittlung der 16 Bundesligisten im Südwesten:
1.FC Kaiserslautern 464 Punkte
1.FC Saarbrücken 384 Punkte
FK Pirmasens 382 Punkte:
Borussia Neunkirchen 376 Punkte
Die ARD-Sportschau erinnert in ihrem Intro zur Sportschau anlässlich des Bundesliga-Auftakts 2023 an den Aufstieg der Borussia. (Video: Uli Glup – vielen Dank!)
Fernsehtipp – Sehenswerte Doku zu den Anfangsjahren der Fußball-Bundesliga:
Das Punktesystem zur Starterlaubnis der 1. BL-Saison war zu undurchsichtig, zudem griff es zu viel weit in die Vergangenheit bis 1952 zurück, kein wirklich valides Kriterium rund 10 Jahre später.
Vier Jahre, also die Spielzeit 1959/60 bis 1962/63 hätten das damals aktuelle sportliche Leistungsvermögen am besten wider gespiegelt, wobei die letzte Saison 1962/63 zum Beispiel mit doppelter Punktzahl hätte gezählt werden können.
Die dann besten 14 Mannschaften (nach Punkten) wären direkt qualifiziert gewesen, die restlichen zwei Startplätze hätten zwischen den Punktbesten sechs folgenden Mannschaften in jeweils zwei Gruppen mit Hin- und Rückspiel (also vier Spiele je Mannschaft) ermittelt werden sollen.
Denn neben Borussia Neunkirchen, gehörten u.a. auch Alemannia Aachen, Schwarz-Weiß Essen, Kickers Offenbach, Bayern München oder FC St. Pauli Hamburg zu den eher Benachteiligten dieser undurchsichtigen Entscheidung.