
Aus der traditionsreichen Geschichte der Borussia / Heute vor 60 Jahren: Borussia hat den kommenden Meister Werder Bremen beim 1:1 trotz Unterzahl am Rande einer Niederlage / Horst-Dieter Höttges sorgt für einen Eklat
Unser Bild: Kaum eine Szene demonstriert die schwierigen Platzverhältnisse gegen Werder im Ellenfeld besser als diese, in der Bremens Torwart Günter Bernard sich bei einem Distanzschuss des glitschigen Balles genauso erwehren muss wie des Morastes in seinem Strafraum. (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)
Die Szene sorgte für Tumulte im Ellenfeld und für Schlagzeilen in der Bundesliga: Borussias wieselflinker Stürmer Elmar May flitzt auf der rechten Außenbahn im Sauseschritt unaufhaltsam Richtung gegnerisches Tor. Unaufhaltsam? Nein, da hat Horst-Dieter Höttges, Werder Bremens Verteidiger, etwas dagegen! Der 20jährige spätere Nationalspieler, Welt- und Europameister, rutscht mit einer mehr als waghalsigen Grätsche in die Knochen des Neunkircher Stürmers, der das Leder gerade elegant über ihn gechipt hat, und holt, um Sekundenbruchteile zu spät gekommen, den „blonden Engel“ im Borussen-Trikot erbarmungslos von den Beinen. Das Publikum im Ellenfeld tobt, und Höttges bekommt die Leidenschaft der Zuschauer schmerzhaft zu spüren: Ein heißblütiger Anhänger greift zur Selbstjustiz und den Bremer Abwehrspieler per Kickbox-Einlage tätlich an, was ein Großaufgebot der Polizei auf den Platz ruft. Es dauert einige Minuten, bis sich die aufgeheizte Atmosphäre einigermaßen beruhigt hat und das Spiel fortgesetzt werden kann.
Gab es ein Nachspiel? „Überhaupt nicht. Wir sind in die Kabine gegangen, haben geduscht, sind dann in den Bus gestiegen und nach Hause gefahren“, erzählt Höttges, der allerdings spätestens nach diesem Einsteigen seinen Spitznamen weghat: „Eisenfuß“! Nur wenige Wochen nach dem Spiel im Ellenfelds feiert der Bremer, der 1964 für eine Ablösesumme von 50.000 DM von Borussia Mönchengladbach an die Weser gekommen war, seine Premiere in der deutschen Nationalmannschaft, mit der er 1966 das WM-Finale in Wembley erreichte, 1972 Europa- und 1974 Weltmeister wurde. Ein Nachspiel hat die Höttges-Grätsche lediglich für Borussia: „Aufgrund des Vorfalls im Spiel gegen Werder Bremen hat das Sportgericht des DFB den VfB Borussia mit der höchst zulässigen Geldstrafe von 3.000 DM bestraft. Das war – wie mehrfach betont – eine milde Strafe, weil kurz vorher schon eine Bestrafung mit 500 DM wegen eines Flaschenwurfes erfolgt war. Ausdrücklich wurde vom Sportgericht erklärt, dass eine Platzsperre beim nächsten Mal unvermeidlich sei“, ist auf Seite 4 der April-Ausgabe (1964) von Borussias Vereinsorgan „Schwarz-Weiße Blätter“ nachzulesen.

Ausgangspunkt des Tumultes: Gerade ist Elmar May (am Boden) von Horst-Dieter Höttges „gefällt“ worden, der Unmut des Publikums (im Hintergrund) nimmt Fahrt auf (oben), die Polizei muss einschreiten (Mitte), während anschließend auch Borussias Paul Pidancet und Werders Max Lorenz aneinander geraten (unten). SR-Reporter Werner Zimmer (rechts am Bildrand) eilt derweil herbei, um im Rahmen seiner Recherche Licht ins Dunkel zu bringen. (Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen)

Auch das Amtsgericht Neunkirchen befasst sich zivilrechtlich mit der Angelegenheit. Körperverletzung und Hausfriedensbruch – so lautet die Anklage gegen den Zuschauer W.: „Nachdem W. insofern sein Verschulden einsah, verzichten Verein und Staatanwaltschaft auf eine Bestrafung. Darüber hinaus erklärt sich der Verein bereit, auch die bereits gegen W. erhobene Zivilklage zurückzunehmen unter der Bedingung, dass W. an den Verein 1.000 DM zahlt und die Kosten des Verfahrens übernimmt. W., der seine impulsive Handlungsweise sichtlich bedauerte, nahm diesen Vorschlag dankend an“, berichten die „Schwarz-Weißen Blätter“. Die Borussia nimmt dies zum Anlass, an ihre Anhänger eindringlich zu appellieren“ „Haltet Disziplin! Das schließt nicht aus, die eigene Mannschaft anzufeuern! Aber werft nicht mit noch so harmlosen Gegenständen und verhindert ein Eindringen in den Innenraum!“ Ansonsten drohe eine Platzsperre. Eine solche hatte der Saarländische Fußballverband (SFB) tatsächlich einmal im November 1949 wegen ungebührlichen Fan-Verhaltens gegen die Borussia verhängt, was eine „außergewöhnliche Kundgebung im Gemeindehaus“ zur Folge hatte, wo „vor überfülltem Saal zahlreiche Anhänger des Neunkircher Sportlebens, nicht zuletzt aber auch Vertreter der Stadt und Stadtratsfraktionen, feierlichen Protest erhoben gegen das Urteil des Schiedsgerichtes des SFB, das wegen angeblich unsportlicher Vorkommnisse im Ellenfeld-Stadion eine vierwöchige Sperre dieses Platzes aussprach“, berichtet die „Volksstimme“.

Borussen-Jubel: Gerade hat Dieter Schock, im Jubel-Knäuel versteckt, den Aufsteiger mit 1:0 in Führung gebracht, Werders Defensive wirkt ziemlich geknickt. (Foto: Ellenfeld-Verein e. V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)
Fußball gespielt wurde aber im pickepackevollen Ellenfeld an jenem 6. März vor 60 Jahren auch noch. Einige besonders mutige und schwindelfreie Fans hatten das Tribünendach erklommen, um die Partie aus luftiger Höhe zu beobachten, auch die Schlossbräu-Wiese oberhalb der Gegengeraden, auf deren Ausbau Präsident Gluding immer noch hoffte, war stark bevölkert. Am Ende waren es sicher mehr als die offiziell 28.000 Zuschauer, die das Spiel des Aufsteigers gegen den Titelaspiranten sehen wollten. Ein Dutzend einheimischer Schornsteinfeger hatten sich zu Spielbeginn als Glücksbringer formiert, brachten dann aber für einen Borussen alles andere als Fortune: Dieter Harig brach sich schon nach 33 Minuten bei einer Kollision mit seinem Mannschaftskameraden Paul Pidancet den Kiefer – eine Verletzung, bei der Borussias Mittelfeldspieler damals noch nicht ahnte, dass sie sogar das Ende seiner Bundesliga-Karriere bedeutete. Die Borussen leisteten dem Tabellenführer und späteren Meister, der seit zwei Monaten unbesiegt an der Spitze stand, nicht nur energischen Widerstand: Sie hatten Werder trotz einstündiger Unterzahl nach Harigs Ausfall (Spielerwechsel gab es damals noch nicht!) sogar am Rande einer Niederlage. Dieter Schock hatte Borussia nach 55 Minuten auf Vorlage von Elmar May, der seinem Ruf als bester Vorbereiter (8 Assists in der Spielzeit 1964/65) alle Ehre machte, in Führung gebracht. Erst nach 77 Minuten gelang Klaus Matischak per Kopfball der Ausgleich für die Grün-Weißen. Aber der moralische Sieger, so wurde an diesem Tag allgemein konstatiert, hieß Borussia. Die zog dank des Punktgewinns an Eintracht Braunschweig (4:5 in Dortmund) und dem Karlsruher SC (1:2 beim Hamburger SV) vorbei und lag nun punktgleich mit dem 1. FC Kaiserslautern (0:1 beim 1. FC Nürnberg) auf Rang 12 – eine gute Ausgangsbasis im Kampf um den Klassenerhalt! Bekanntermaßen erreichte Borussia am Saisonende Platz 10, während Werder Bremen sich die Meisterkrone aufsetzen durfte.
Derweil hatte Horst-Dieter Höttges, bis heute mit 420 Bundesliga-Einsätzen Werders Rekord-Spieler, nach den 90 Minuten noch eine andere Entschuldigung für seine ziemlich brutal aussehende Grätsche: „Der Schiedsrichter durfte das Spiel bei diesen Platzverhältnissen nie anpfeifen! Wir Spieler müssen hinterher dafür büßen. Auf dieser Eisbahn weiß man selbst nicht mehr, was fair oder unfair ist.“ Sein Trainer Willi Multhaup blies ins gleiche Horn: „Schiedsrichter Heumann hat das Spiel vorzüglich geleitet. Er hat nur einen einzigen Fehler gemacht: Es überhaupt anzupfeifen.“ Eine Aussage, der man beim Betrachten der Fotoserie (siehe unten) eigentlich nur zustimmen kann. Trotzdem: Ob der in der Tat schwer bespielbare Boden eine solche Grätsche des Eisenfußes rechtfertigt, ist eine andere Frage. Die Szene tut jedenfalls heute noch allein vom Zuschauen weh. Ein kleines Wunder, dass Elmar May anschließend noch weiterspielen konnte. Da hat der Blondschopf wohl einen guten Schutzengel gehabt!
Statistik: Borussia – Werder Bremen 1:1 (0:0)
Borussia: Horst Kirsch – Erich Leist, Dieter Schock, Hans Schreier, Günter Schröder, Dieter Harig, Achim Melcher, Paul Pidancet, Günter Heiden, Günther Kuntz, Elmar May. – Trainer: Horst Buhtz.
Werder: Günter Bernard – Horst-Dieter Höttges, Sepp Piontek, Helmut Jagielski, Heinz Steinmann, Diethelm Ferner, Max Lorenz, Arnold Schütz, Klaus Matischak, Hans Schulz, Gerhard Zebrowski. – Trainer: Willi Multhaup.
Tore: 1:0 (55.) Dieter Schock, 1:1 (77.) Klaus Matischak. – Schiedsrichter: Franz Heumann (Ansbach). – Zuschauer: 28.000.
Wer die Höttges-Grätsche noch einmal in bewegten Bildern sehen möchte, kann dies ganz am Anfang eines Films, der anlässlich des Todes von Horst-Dieter Höttges am 22. Juni 2023 im regionalen Kanal „buttenunbinnen“ auf sein Leben und seine Karriere zurückblickt, unter folgenden Link tun:
https://www.butenunbinnen.de/videos/nachruf-werder-legende-hoettges-100.html
Unsere Archivbilder zeigen weitere Szenen aus dem Spiel der Borussia gegen Werder Bremen vor 60 Jahren. (Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)










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