Eine persönliche Hommage an einen der ganz Großen des deutschen Fußballs, der 80 Jahre alt wurde und dessen Bundesliga-Premiere im Ellenfeld-Stadion stattfand
Beeindruckend! Dieses Wort beschreibt am besten die Wirkung des überdimensionalen Bildes, das nicht nur mich beim Eintritt in den VIP-Raum des Ellenfelds immer wieder aufs Neue in den Bann zieht. Beeindruckend nicht nur die riesige Kulisse im Hintergrund auf der Tribüne und in der Spieser Kurve, beeindruckend auch der Spieler im weißen Trikot, der sich gegen Borussias Torwart Willi Ertz und Dieter Schock in Szene zu setzen weiß. Noch trug er die Haare kurz, noch war er nicht so bekannt wie ein bunter Hund, noch war er im Begriff, mit seiner Mannschaft in der Bundesliga anzukommen. An jenem 14. August 1965 betrat er, mit Borussia Mönchengladbach gerade aufgestiegen, erstmals die erstklassige Bühne des deutschen Fußballs. Mit 1:1 holten die „Fohlen vom Bökelberg“ ihren ersten Bundesliga-Punkt. 20 Jahre war er damals alt, aber schon Kopf einer unbekümmert und mitreißend aufspielenden Mannschaft. Vor wenigen Wochen feierte er seinen 80. Geburtstag. Ob er dabei auch an seine Bundesliga-Premiere im Ellenfeld gedacht hat?
Günter Netzer gehört für mich zweifellos zu den „Ikonen“ des deutschen Fußballs. Als in den 60er und 70er-Jahren sozialisierter Fußballfan bin ich bis heute ein großer Fan von ihm. Neben Hamburgs Stürmer Uwe Seeler gehörte er zu meinen Vorbildern, denen ich auf dem Bolzplatz nacheiferte. Die Gründe dafür liegen nicht nur in den außergewöhnlichen sportlichen Leistungen: Auch die äußere Erscheinung mit der langen Mähne imponierte mir: So trug ich die Haare auch, nur nicht in blond. Zudem spiegelte er mir mit seiner rebellischen Art ein Verhalten, das an den Tag zu legen mir meist der Mut fehlte, das ich aber doch nur allzu gerne gezeigt hätte. Günter Netzer war anders als die meisten Fußballer seiner Zeit. Ein Typ – aber nicht, wie er selbst in einem „Kicker“-Interview sagte, „um ein Typ um des Typs willen sein zu wollen“, sondern einer, der seine Persönlichkeit mit Leistung untermauerte. Aber auch einer, dem Ästhetik immer wichtig war: Nicht nur auf dem grünen Rasen, sondern auch abseits davon. „Ich habe die schönen Dinge im Leben geliebt“, hat er einmal gesagt.
„Profifußballer, Geschäftsmann, Fernseh-Experte und Popstar, oft alles gleichzeitig“ – die von der ARD-Sportschau dem „Geburtstagskind“ verliehenen Attribute treffen ganz sicher zu. Doch im Vordergrund stand für ihn immer der Fußball: „Der hatte stets absolute Priorität!“ Als Profi führte der unangepasste Spielmacher seine Gladbacher von einem Erfolg zum anderen, eröffnete – sehr zum Unwillen seines Trainers und Förderers Hennes Weisweiler – mit „Lovers Lane“ in der Altstadt eine Diskothek, betrieb parallel dazu ein Speiselokal und war Herausgeber des Stadionmagazins „Fohlen Echo“, das 1965 erstmals erschien. Titel gewann er in beispielloser Serie: Zweimal wurde er mit seiner Borussia Deutscher Meister, gewann später mit Real Madrid zweimal die spanische Meisterschaft, dazu zweimal den Pokal, wurde unter Bundestrainer Helmut Schön Europameister 1972 und Weltmeister 1974. Beim Hamburger SV wurde er nach der Spielerkarriere Manager, seine von ihm zusammengestellte Mannschaft um Horst Hrubesch und Kevin Keegan sowie den Trainer Branko Zebec und Ernst Happel errang dreimal den deutschen Meistertitel, gewann den Europapokal der Landesmeister.
Legendär das Pokalfinale 1973 gegen den 1. FC Köln im Düsseldorfer Rheinstadion, das ich am Fernseher verfolgte und dabei, daraus mache ich kein Hehl, Netzer und seiner Borussia kräftig die Daumen drückte. Keine Episode beschreibt für mich die Eigenwilligkeit dieses Fußballgenies besser. Der große Blonde, der in dieser Zeit um seine verstorbene Mutter trauerte, war von Verletzungen geplagt und nicht in Bestform. Die Gladbacher hatten die Saison „nur“ auf Platz 5 abgeschlossen. Kurz vor dem Endspiel war zudem bekannt geworden, dass der Mittelfeldstar zu Real Madrid wechseln würde. Am Tag vor dem Spiel teilte Coach Weisweiler seinem Spielmacher mit, dass er nicht zur Startformation gehöre. „Das ist aber mutig von Ihnen“, lautete Netzes lapidare Antwort, der zeit seines Lebens eine zwiespältige Beziehung zu Weisweiler hatte. Nach der Pause wollte der Trainer ihn bringen, Netzer lehnte ab: „Besser geht es auch mit mir nicht.“ Nach 90 Minuten stand es nach Treffern von Wimmer und Neumann 1:1. Netzer suchte den erschöpft am Boden liegenden Christian Kulik auf, fragte, ob er sich noch fit fühle. Der verneinte. „Ich spiel´ dann jetzt“, informierte der Blondschopf seinen Trainer. Der konnte gar nicht mehr antworten. Nur wenige Minuten, nachdem Günter Netzer sich selbst eingewechselt hatte, hämmerte er nach Doppelpass mit Rainer Bonhof mit seiner zweiten Ballberührung die Lederkugel unhaltbar in den Torwinkel. „Eigentlich konnte dieser Ball gar nicht reingehen, weil er kurz vorher nochmal aufgesprungen war und ich ihn eigentlich völlig falsch getroffen habe“, erklärte der Siegtorschütze nach dem Spiel.
Auch nach einer aufregenden Karriere mit Pfostenbruch und Büchsenwurf blieb der Mann, „der aus der Tiefe des Raumes kommt“, agil und aktiv, wird zum Big Player im Geschäft mit Fußball-Vermarktungsrechten, 13 Jahre lang begleitet er zusammen mit Gerhard Delling als TV-Experte die Nationalmannschaft, die Zuschauer haben ihre helle Freude an den verbalen Doppelpässen des Duos. Dabei hat der Fußball Günter Netzer viel gelehrt für´s Leben. „Der Fußball ist eine Lebensschule“, hat er immer gesagt: „Dem Fußball kann man Dinge entnehmen, die man später für sein Leben nutzen kann. Das habe ich sehr früh getan. Ich kann Prioritäten setzen, ich bin Perfektionist. Diese Haltung hat schon mein Leben als Profi ausgezeichnet. Ich bin konsequent, und ich akzeptiere Dinge, die nicht zu ändern sind.“ Ehrgeiz und Verbissenheit, das gesteht er offen, gehörten nicht zu seinem Charakter: „Das war nicht mein Anspruch. Sonst hätte ich vielleicht die Klasse von Pelé erreicht.“
Hinzu kommt eine große Portion Demut – ein Wort, das so Netzer, „leider aus dem deutschen Sprachschatz etwas geschwunden ist.“ Dass er nun schon 80 Jahre alt geworden und die Zeit so dahingerast ist, belaste ihn keineswegs, im Gegenteil: „Weil ich ein privilegierter Mensch bin, bin ich nicht nur dankbar, sondern auch demütig. Denn ich durfte diese Anzahl an Jahren nicht nur überhaupt erreichen, sondern auch in dieser Verfassung, die ich Gott sei Dank habe. Das ist keine Selbstverständlichkeit“, bekennt er im „Kicker“-Gespräch mit Chefredakteur Karl Heinz Wild. Netzer, dem lange Zeit unberechtigter Weise ein Playboy-Image anhaftete, hat erkannt, was wirklich im Leben zählt: Dass er eine „traumhafte Familie“ und eine Frau, die seit 46 Jahren für ihn da ist, hat, dazu noch eine mittlerweile 38jährige Tochter (“Das größte Glück meines Lebens!“) – das alle bedeute ihm viel mehr als „alle Trophäen und Ehrungen und dieser ganze Ruhm.“
Worte, die von menschlicher Größe zeugen. Ähnlich beeindruckend wie das überdimensionale Bild, das mich im VIP-Raum des Ellenfelds immer wieder aufs Neue in seinen Bann zieht. Nur schade, dass ich Günter Netzer nicht live in unserem traditionsreichen Stadion erleben durfte! (-jf-)
Info: Günter Netzers Bundesliga-Premierenspiel im Ellenfeld
Unser Bild: Groß war die Vorfreude der Neunkircher Fußballfans auf Borussia Mönchengladbach, den Bundesliga-Neuling 1965. (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)
Samstag, 14. August 1965: Bundesliga-Ouvertüre für die späteren Stars Jupp Heynckes, Berti Vogts und Günter Netzer im Ellenfeld! Schon weit vor Spielbeginn 16.00 Uhr herrscht Hochbetrieb in der Hüttenstadt, aus allen Richtungen strömen die Fans herbei. 25.000 sind es schließlich, die bei strahlendem Sonnenschein und sommerlicher Hitze in vorfreudiger Erwartung die Ränge des Ellenfeld-Stadions dicht bevölkern, als Schiedsrichter Karl Riegg aus Augsburg seine Trillerpfeife an den Mund setzt und mit einem schrillen Pfiff den Ball freigibt.
Vorgewarnt durch die stürmischen Offensivauftritte der Elf vom Niederrhein in der Regionalliga West hat Horst Buhtz auf die beiden brandgefährlichen Halbstürmer Heynckes und Netzer die energischen Schock und Peehs als Sonderbewacher eingesetzt. Zumindest mit dieser taktischen Maßnahme hat der Neunkircher Coach Erfolg, denn beide Gladbacher – trainiert vom legendären Hennes Weisweiler – setzen kaum Akzente, zumal Günter Netzer grippegeschwächt in die Partie gegangen ist. „Weniger Auswirkungen hatten die mit viel Kraftaufwand vorgetragenen Angriffe der Gastgeber, denn die Deckung vor dem sicheren Keeper Orzessek ließ kaum Torchancen zu. Außerdem fehlte den Schüssen der Hüttenstädter die Präzision. Auf der Gegenseite machte Mittelstürmer Rupp Leist und Co. mit seiner Beweglichkeit viel Arbeit, doch auch Torwart Ertz war zumeist auf dem Posten. Einzige Ausnahme in der 20. Minute: Der ansonsten weit zurückhängende Elfert nahm sich aus 20 Metern ein Herz und zog ab, Ertz ließ den Ball durch die Hände gleiten – und Gladbach führte“, ist auf der Website „fußballdaten.de“ über den weiteren Spielverlauf zu lesen. Der Torschütze, Gerd „Amigo“ Elfert, der damit erster Bundesliga-Torschütze in die Gadbacher Annalen einging, erinnert sich in der „Westdeutschen Zeitung“ noch Jahre später an dieses Erfolgserlebnis: „Einen Schönheitspreis hätte ich mit diesem Tor sicher nicht bekommen, der Schuss war durchaus haltbar.“ Noch vor der Pause allerdings rückt die Borussia aus dem Saarland das Ergebnis zurecht: Peehs bereitet mit einem Durchbruch von außen den Ausgleich vor, den Wingert aus kurzer Entfernung markiert (40.). Im zweiten Durchgang legen die Ellenfelder noch einen Zahn zu, doch an der Feinabstimmung vor dem Tor der Fohlen-Elf (Durchschnittsalter unter 22 Jahre) mangelt es weiterhin. Glück haben die Gäste zudem, dass der herausragende Youngster Berti Vogts insgesamt viermal (!) auf der Torlinie rettet. Auch einen umstrittenen Foulelfmeter kann Borussia nicht nutzen: „Unkonzentriert, als wäre er der Schwere der Aufgabe nicht gewachsen, schoss Heiden so unplatziert, dass der aufmerksame Orzessek wenig Mühe hatte, sich des Balles zu bemächtigen. In dieser Sekunde zerrannen Neunkirchens letzte Siegeshoffnungen“, kommentierte die „Saarbrücker Zeitung“ jene Szene. Da der Feldverweis für Gladbachs Verteidiger Albert Jansen (zweimaliges Handspiel) erst sehr spät (85.) erfolgt, kann Borussia aus der numerischen Überlegenheit kein Kapital mehr schlagen, und es bleibt nach hitzigen 90 Minuten letztlich beim 1:1.
Für die Borussen aus dem Ellenfeld liefen damals auf: Ertz – Heiden, Leist, Glod, Schröder, Schock, Simmet, Wingert, Peehs, Görts, Kuntz. Die Borussia vom Niederrhein spielte mit: Orzessek – Jansen, Raßmanns, Vogts, Wimmer, Wittmann, Elfert, Netzer, Heynckes, Laumen, Rupp. Das Rückspiel auf dem Bökelberg gewinnt Gladbach 4:1, doch die Borussia aus dem Ellenfeld nimmt an gleicher Stelle nur wenige Wochen später erfolgreich Revanche und wirft durch ein Tor von Elmar May in der Verlängerung (117.) die Gladbacher aus dem DFB-Pokal. Am Ende der Saison jedoch muss die Buhtz-Truppe mit nur 22 Punkten den bitteren Gang in die Regionalliga antreten. (-jf-)
Unsere Archivbilder lassen das Spiel der beiden Borusse-Teams noch einmal lebendig werden. (Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)
Chance vertan: Günter Heiden schießt einen Elfmeter so unplatziert, dass Gladbachs Keeper Manfred Orzessek parieren kann.
Torhüter Orzessek im Luftkampf mit Günter Kuntz (Nr. 7), Berti Vogts (li) und Wittmann (im Hintergrund) schauen zu.
Gerade hat Jürgen Wingert (Nr. 10) für Neunkirchens Borussia zum 1:1 getroffen und dreht jubelnd ab … ,
… während die Gladbacher (mit Berti Vogts am Boden) konsterniert „aus der Wäsche“ gucken.
Günter Netzer der Superstar meiner Jugend. Ich fand ihn super. Er war nicht nur ein grandioser Fußballer sondern auch ein Supertyp neben dem Fussball.