Von der Frieden stiftenden Kraft des Fußballs

„Sport ist Krieg ohne Schießen“ (George Orwell, 1945) – ein Fußballspiel an Weihnachten 1914 beweist das Gegenteil / Eine Weihnachtsgeschichte zum Nachdenken in schwierigen Zeiten

„Stille Nacht, heilige Nacht.“ Eines der bekanntesten Weihnachtslieder. Trotz Beatles, Rolling Stones, Pink Floyd, AC/DC und vielen anderen erfolgreichen Gruppen und ihren Top-Hits bis heute das am meisten gespielte und verkaufte Lied der Musikgeschichte! Für viele der Inbegriff des weihnachtlichen Liedguts und Brauchtums mit hohem Rührungsfaktor. Am 24. Dezember 1818 in Oberndorf bei Salzburg uraufgeführt, seither in über 320 Sprachen und Dialekte übersetzt. Seit 2011 in Österreich von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. „Stille Nacht, heilige Nacht.“

Doch die Nacht am 24. Dezember 1914, ein paar Monate nach Beginn des 1. Weltkriegs, ist an der Westfront in Flandern alles andere als still, alles andere als heilig. Nichts zu spüren von „himmlischer Ruh´“, im Gegenteil: Der umkämpfte Frontabschnitt, an dem bis dahin schon in Gewehrsalven und Kanonendonner mehr als eine halbe Million Menschen ums Leben gekommen sind, ist in der Vorweihnachtszeit die Hölle auf Erden. Fern der Heimat liegen die meist jungen Soldaten frierend und verlaust in den Schützengräben, so feucht und kalt wie ein Grab. Dabei waren viele von ihnen im Sommer mit Begeisterung in den Krieg gezogen in der Hoffnung, spätestens in ein paar Monaten als siegreiche Helden zurückzukehren.

Aber jetzt macht der Krieg unerwarteterweise für einen Moment Pause. Ein Wunder. Das Niemandsland zwischen den Fronten ist zu dieser Zeit vielerorts keine hundert Meter breit. Man liegt in Rufweite, kann die anderen noch als Menschen wahrnehmen. Irgendwo bittet ein deutscher Soldat die Engländer um eine Feuerpause, damit man Lieder singen könne, und stimmt an: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Beifall von französischer und britischer Seite, der Weihnachtsklassiker ertönt plötzlich in den jeweiligen Muttersprachen. „Silent night, holy night.“ „Douce nuit, sainte nuit.“ Die Soldaten stellen Kerzen auf ihre Gräben, die schon bald eine kilometerlange Lichterkette bilden. Der Gefechtsnebel verzieht sich, die Waffen schweigen.

Am nächsten Morgen kommt man sich noch näher. Die Männer, zuvor noch Feinde – oder besser: Von ihren Befehlshabern zu Feinden erklärt! – versammeln sich zwischen den Schützengräben. Als hätten sie den Ruf des Engels in Bethlehem gehört: „Fürchtet euch nicht“, hatte der Bote Gottes den Hirten zugerufen. Auch die Soldaten legen ihre Angst ab, kommen ins Gespräch, beschenken sich sogar mit dem, was sie aus ihrer Heimat bekommen haben: Zigaretten, Alkohol, Essen. Aus den Gräben der Engländer, so heißt es, sei ein Ball hervorgekickt worden sein. Vielleicht ist es auch nur eine Blechdose. Auf jeden Fall richten Deutsche und Briten auf gefrorenem Boden und zerpflügtem Matsch, wo Stunden zuvor noch reihenweise gestorben wurde, ein provisorisches Spielfeld her, Soldatenmäntel ersetzen die Torfposten. Das gemeinsame Spiel beginnt. „Obwohl es keinen Schiedsrichter gab, hielten sich die Spieler streng an die Regeln“, schreibt das Magazin 11FREUNDE. 60 Minuten, so heißt es, habe das wilde Spiel der jungen Kerle, fast Kinder noch, gedauert, 3:2 sollen die Deutschen gewonnen haben. Auf seine ganz eigene Art war es das erste „Jahrhundertspiel“ in der Fußballgeschichte.

Doch die einende Kraft des runden Leders währt nicht lange. Die Oberkommandos der Kriegsnationen sorgen alsbald dafür, dass sich die eigenmächtige Friedlichkeit ihrer Truppen nicht wiederholt. „Am zweiten Weihnachtstag war sie vorbei, die spielerische Auszeit vom Töten, die kurze Zeit, in der das einzige, womit man aufeinander schoss, ein Ball war. Man salutierte, feuerte ein paar Mal in die Luft, dann war wieder Krieg“, heißt es in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu besagtem Ereignis, bei dem sich im Laufe der Jahrzehnte wohl auch Fakten und Fiktionen, Wahrheit und Dichtung vermischt haben.

Und doch: Die Botschaft hat Stahlkraft, gerade in Krisenzeiten wie diesen, in denen wieder Krieg tobt, wohin man schaut: Ukraine, Syrien, vor ein paar Tagen auch in Magdeburg. „Der Fußball ist eine universelle Sprache, die unsere Herzen öffnet. Er bringt die Menschen zusammen, über alle Grenzen hinweg“, hat der frühere UEFA-Präsident Michel Platini anlässlich einer Denkmalenthüllung an der alten Front in Belgien 2014 festgestellt. Die Europäische Fußballunion hat in einem etwa vierminütigen Video der Ereignisse von 1914 gedacht. Darin heißt es: „Es war wundervoll und doch seltsam. An diesem Weihnachten brachte das Fest der Liebe Todfeinde als Freunde zusammen.“ Und widerlegt eindrucksvoll die Aussage Georg Orwells: „Sport ist Krieg ohne Schießen.“ Aus dem lauten und tödlichen Dunkel wurde dann doch noch eine stille, eine heilige Nacht. Ein kleiner Friede im großen Krieg. Ein großer Moment der Vernunft im langen Wahnsinn der Menschheitsgeschichte. Ein regelrechtes Wunder, das wir auch in diesen Tagen gut gebrauchen könnten: „Ehre sei Gott in der Höh´ und Frieden den Menschen auf Erden“, damit die Nacht auf Weihnachten wirklich still und heilig werden kann. (Lukas, 2,14) (-jf-)

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