Aus der Historie – vor 60 Jahren: Borussia steigt in die Bundesliga auf / Kleine Serie, heute Teil 1: 1:5 in Berlin – der misslungene Auftakt beim SC Tasmania 1900 im Poststadion
Unser Bild: Fiasko zum Auftakt, die Berliner Luft bekam den Borussen nicht – die Neunkircher Abwehr hatte, wie in dieser Szene mit Erwin Glod (Nr. 3) und Karl Ringel (re. im Hintergrund) gegen Berlins Torschützen Helmut Fiebach, meist das Nachsehen. (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen)
In diesen Tagen jährt sie sich zum 60. Mal: Die Aufstiegsrunde zur Fußball-Bundesliga 1964. Eine Runde, die zur Sternstunde der Borussia wurde. Eine Runde, in der es am Ende gelang, auf sportlichem Wege eine Schmach zu tilgen, die mehr als ein Jahr lang wie ein Stachel tief im Borussen-Herzen steckte. Denn als 1963 die neu gegründete Bundesliga an den Start ging, war das „Schalke des Südwestens“, wie die Mannschaft aus der Hüttenstadt genannt wurde, trotz sehr erfolgreicher Jahre zuvor mit Südwestmeisterschaft, mehrfacher Teilnahme an der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft sowie 50 Jahre ununterbrochener Erstklassigkeit außen vor – per Federstrich der damaligen DFB-Gewaltigen zur Zweitklassigkeit verurteilt.
Doch Borussia nahm die Situation an, trat den Weg in die Regionalliga Südwest „mit dem festen Ziel an, den Aufstieg in die Bundesliga zu schaffen und damit zu zeigen, dass man auf alle Fälle zum Oberhaus gehört“, notiert Chronist Armin König in der Festschrift „Mythos Ellenfeld“ zum 100jährigen Jubiläum 2005. Nach 24 Spielen ohne Niederlage und mit einem 6:0 im Saisonfinale beim Ludwigshafener SC behaupteten die Borussen im Mai 1964 mit einem Punkt Vorsprung vor dem alten Rivalen FK Pirmasens ihre Führungsposition und holten den Südwest-Titel. Der erste Schritt, die ersehnte Erstklassigkeit wieder zu erlangen, ist getan. Der zweite muss jetzt folgen – in den Tagen um Himmelfahrt, an denen, wie Ulrich Homanns Buch zur Geschichte der Aufstiegsrunden nahelegt, in der Regel Temperaturen herrschten, die an Höllenglut erinnerten. Wir blicken zurück auf die Runde, in der die Borussia ein echtes Sommermärchen schrieb.
Blick ins Berliner Programmheft anlässlich eines großen Fußballwochenendes: Während Tasmania gegen Borussia um den Bundesliga-Aufstieg kämpfte, empfing Lokalrivale Hertha BSC Standard Lüttich zum Intertoto-Rückspiel.
Die Überzeugung, dass sie eigentlich schon bei der Gründung der Bundesliga hätten dabei sein müssen, hatten die Borussen mit mindestens zwei anderen Clubs in ihrer Gruppe 1 gemeinsam: Bayern München und Tasmania Berlin. Während die Münchener in der Regionalliga Süd nahezu im Schongang die Vizemeisterschaft (hinter Hessen Kassel) errangen und dabei quasi freiwillig auf den Titel verzichteten, um sich in der Aufstiegsrundengruppe 2 nicht mit dem vermeintlichen Favoriten und Westmeister Alemannia Aachen auseinandersetzen zu müssen, hatte es die Tasmania ohne ihren großen Stadtkonkurrenten Hertha BSC mit dem Titelgewinn in Berlin noch leichter gehabt und sich mit vier Zählern Vorsprung vor Tennis Borussia Platz 1 gesichert.
Vor dem Rundenauftakt wurden die Tasmanen jedoch eher als Außenseiter gehandelt. „Wir haben nichts zu verlieren, können aber alles gewinnen. Gerade darin liegt unsere Chance“, formulierte Tasmania-Coach Baumann im Programm-Heft zum Spiel die Einstellung in Neukölln. „Ich habe noch nie vorher so eine Mannschaft gesehen, die schwach spielt – und sich dann so gewaltig steigern kann“, schätzte er seine Truppe ein. Anders die Borussia: Nach den Erfolgen in den vorangegangenen Jahren, in denen man viel Erfahrung in den deutschen Endrunden sammeln konnte, hatten nicht wenige Experten die Mannschaft von Trainer Horst Buhtz zumindest als Geheimfavorit eingestuft. Das sah auch der Toto-Tipp-Ratgeber so – nicht ohne den Berlinern dennoch zumindest eine „Unentschieden-Chance“ zu geben. Als die Borussen ab Frankfurt mit viel Selbstbewusstsein zum Flug nach Berlin abhoben, fehlte der zuverlässige Mittelfeldmann Dieter Schock: Er diente als Bundeswehrsoldat in Hermeskeil und musste noch ein Spiel um die Regimentsmeisterschaft absolvieren – im Handball! Borussias Spielausschussvorsitzender Kurt Gluding nahm´s mit Humor: „Ein besseres Training als Handball kann er nicht haben!“ Stopper Leist war zwar dabei, aber mit seinen Gedanken eher bei den Vorbereitungen zur Kfz-Meisterprüfung.
„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ Vor dem Spiel guter Dinge: Sturm-As Elmar May und Borussias beinharter Defensivspezialist Günter Schröder (li.). Auf geht’s ins Poststadion: Ebenfalls optimistisch besteigen Paul Pidancet und Torhüter Horst Kirsch (re.) den Bus (oben). Auf dem Platz allerdings sah das dann ganz anders aus – wie in dieser Szene: Für Heinz Simmet, Schütze des Ehrentores, war nicht nur hier bei Torhüter Klaus Basikow Endstation (unten).
Als um Punkt 18.00 Uhr an jenem heißen Juni-Samstag im Poststadion der Anpfiff ertönte, rieben sich die 22.000 Zuschauer verwundert die Augen. Denn nicht die favorisierten Borussen drückten der Partie den Stempel auf, nein: Tasmania steigerte sich, wie Trainer Baumann vermutet hatte, enorm, dominierte von Anfang an das Geschehen, ja spielte sich geradezu in einen Rausch. Vor allem das Berliner Sturm-Duo, den Lokomotiv-Schlosser Helmut Fiebach und Lagerist Heinz Fischer, bekam die Defensive aus Neunkirchen überhaupt nicht in den Griff: Mit einem Doppelschlag binnen drei Minuten (21. / 24.) brachten die beiden Angreifer Tasmania mit 2:0 in Führung. Und als Erich Reimer fast mit dem Pausenpfiff von Schiedsrichter Kreitlein aus Stuttgart auf 3:0 erhöhte, war mehr als eine Vorentscheidung gefallen. „Die Borussen wurden von einer sportlichen Realität überrollt, die so ganz anders war, als sie sich vorgestellt hatten. Was sich schon sporadisch in Regionalligaspielen der zurückliegenden Saison angedeutet hatte, wurde hier überdeutlich: Bei schnell vorgetragenen Angriffen kam die Neunkircher Abwehr schnell ins Schwimmen. Sogar Erich Leist, sonst Fels in der Brandung, wurde an diesem Tag vom Tasmanen-Mittelstürmer Fischer aus den Angeln gehoben wie seit Jahren nicht mehr“, analysieren Paul Burgard und Ludwig Linsmayer in ihrem Borussen-Bilderbuch „90 Minuten. Mit Ferdi Hartung in die Bundesliga“. Der Anschlusstreffer zum 1:3 von Heinz Simmet ließ nach gut einer Stunde die Flamme der Hoffnung auf eine Wende zwar noch einmal kurz aufflackern, doch der an diesem Tag nicht zu stoppende Heinz Fischer löschte sie mit zwei weiteren Treffern (71. / 83.) schnell wieder aus.
Mit 1:5 waren die Borussen in Berlin am Ende regelrecht untergegangen und standen nach dem Auftakt nur deshalb nicht am Ende der Tabelle, weil Nordmeister FC St. Pauli gegen die Bayern gleichzeitig am Millerntor nach Toren von Dieter Brenninger (3) und Franz Beckenbauer mit 0:4 die Segel strecken musste – ein klares Signal der Münchener an die Konkurrenz, die schon vor 60 Jahren zeigen wollten: „Mia san mia!“ Die Borussen zogen aus der Pleite in Berlin erste Konsequenzen: Erich Leist verschob seine Prüfung auf den Herbst, die Mannschaft zog sich sofort in die Waldeinsamkeit im Kirkeler Schulungsheim der Arbeitskammer zurück. Denn vor dem nächsten Spiel gegen den FC St. Pauli stand die Situation bereits Spitz auf Knopf: Siegen oder Fliegen – eine Niederlage wäre schon so gut wie das Aus im Aufstiegsrennen! Fortsetzung folgt (-jf-)
Statistik: SC Tasmania 1900 Berlin – Borussia 5:1 (3:0)
Tasmania: Klaus Basikow – Hans-Jürgen Bäsler, Hans-Günter Becker, Eckhardt Peschke, Horst Talaszus, Kalus Konieczka, Hemut Fiebach, Heinz Fischer, Wolfgang Neumann, Erich Reimer, Wolfgang Rosenfeldt. – Trainer: Gunter Baumann.
Borussia: Willi Ertz – Erwin Glod, Erich Leist, Dieter Schock, Günter Schröder, Achim Melcher, Karl Ringel, Günter Kuntz, Elmar May, Paul Pidancet, Heinz Simmet. – Trainer: Horst Buhtz.
Tore: 1:0 (21.) Fiebach, 2:0 (24.) Fischer, 3:0 (45.) Reimer, 3:1 (65.) Heinz Simmet, 4:1 (71.) Fischer, 5:1 (83.) Fischer. – Schiedsrichter: Rudolf Kreitlein (Stuttgart). – Zuschauer: 22.000 im Poststadion.
Weitere Impressionen vom Spiel in Berlin aus dem Fotoalbum der Borussia. (Alle Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)