Das Buch „15.30“ hat der Borussia und dem Ellenfeld-Stadion ein umfangreiches Kapitel gewidmet
Samstags um 15:30 Uhr haben die Deutschen seit 50 Jahren eine Verabredung mit dem Fußball. Aus den Gründerjahren der Bundesliga gibt es diese Schwarz-Weiß-Fotos: Männer parken ihre Autos im Kreis zur Wagenwäsche auf den Motorhauben krächzen die Transistorradios, im Hintergrund qualmen die Schornsteine der Hüttenwerke. Über allem schwebt die Stimme des Moderators in der Radio-Konferenz: Platzverweis in der Glückauf-Kampfbahn!, Tor an der Grünwalder Straße!, Elfmeter im Ellenfeld! Heutzutage, und das nicht nur samstags um 15:30 Uhr, drängeln sich die Leute in den Kneipen wie in der Fankurve. Auf dem Smartphone verfolgen sie den Spielverlauf im Liveticker. Und im Biergarten kommt der Computer mit dem mobilen Pay-TV -Abo auf den Tisch. 15:30 – hinter diesem Code verbirgt sich ein gemeinsamer Nenner der Republik, angefüllt mit Nostalgie und Verklärung. Mit den Toren von Seeler, Müller, Völler, Günter Kuntz und Elmar May, den Erzählungen von Fohlen-Elf und Hundebiss („Hunger auf Unger“), von Kopfball-Ungeheuern oder Breisgau-Brasilianern. In einem 2013 herausgegebenen Buch schlagen Reporter der Süddeutschen Zeitung die interessantesten Kapitel noch einmal neu auf, erzählen von denkwürdigen Meisterschaften, von Traum- und Phantomtoren, beschreiben die Skandale und präsentieren unbekannte Fundstücke. Anpfiff, 15:30! Alles andere kann warten.
Ein umfangreicher Beitrag wird in diesem 432 Seiten dicken Oeuvre auch der Borussia aus Neunkirchen gewidmet. In der Rangliste ehemaliger Erstligisten, die fast spurlos verschwunden sind, wird ihr der erste Platz, noch vor Clubs wie Rot-Weiß Essen, Bayer Uerdingen oder dem Wuppertaler SV, eingeräumt. Für den Beitrag ist Reporter Ralf Wiegand eigens ins Saarland gereist. „Ihn habe ich damals vom Bahnhof abgeholt und den ganzen Tag betreut: Stadionführung, Stadtrundfahrt, Sportarchiv, Industrie-Dreieck – das ganze Programm“, erinnert sich Professor Dr. Jens Kelm, Borussen-Archivar und Intimkenner des Ellenfelds. Ihn bezeichnet Ralf Wiegand nicht umsonst als „das Gedächtnis des Klubs: Der Orthopäde und Sportlehrer ist ein Neunkircher Junge und Borussia-Anhänger, er archiviert die Geschichte des Vereins. Ein Teil lagert im Landesarchiv in Saarbrücken, wo all die Hefte und Zeitungsberichte liegen, die Auskunft geben können, wie groß die Borussia einmal gewesen ist. Siege, so stand es damals sogar in Berliner Zeitungen, feierten die Neunkircher bisweilen `wie ein Volksfest, mit Marschmusik und Blumensträußen und einer schwarz-weißen Bergziege, die der Zoo als Maskottchen geschenkt hatte.´“
Jens Kelm, damals noch ein Kind, weiß davon zu berichten und erzählt, als würde sich alles gleich am nächsten Wochenende wiederholen: „Wenn das Stadion voll ist, dann ist hier alles zugeparkt, das sieht aus – das können Sie sich gar nicht vorstellen! Dann ist es schwarz vor Menschen, die den Berg runterlaufen zum Stadion. Wie Ameisen!“ Da wirkt auch der Reporter der „Süddeutschen“ emotional mitgenommen …
Doch das ist längst vorbei, Geschichte. Für immer? Jedenfalls glaubt ein ehemaliges Sturm-As der Borussia: „Das kommt nie wieder. Völlig ausgeschlossen“, wird Günter Kuntz zitiert. Geschichte, so Autor Wiegand, stehe aber eben nicht nur in Büchern, sondern auch in Form eines Fußballstadions mitten in der Stadt. „Langsam wächst ein Neubaugebiet über die Wiese hinter der Spieser Kurve an die Betonstufen heran, die von Bauzäunen umstellt sind.“ Das Stadion, von der Stadt dem Verein abgekauft und unter Übertragung aller Pflichten zur Nutzung überlassen, erfährt eine zwiespältige Wertung: „Es steht für die Vergangenheit und frisst gleichzeitig die Zukunft auf. Das ist wie Segen und Fluch. Der Segen, es einmal erlebt zu haben, einmal dabei gewesen zu sein. Und der Fluch, zeitlebens der Erinnerung hinterher zu laufen. Diese Zerrissenheit hat schon ganz andere Vereine ausgelöscht.“ Es gebe Leute, heißt es im Beitrag, „die munkeln, die Stadt habe ganz andere Pläne hier, die mit dem Fußball nichts zu tun hätten. Vielleicht soll das Neubaugebiet hinter der Spieser Kurve noch größer werden. So denken sie hier. Vorstellen mag sich das niemand.“
15.30 – Ausschnitte aus den Beiträgen zur Borussia. Das für alle fußballhistorisch interessierten Leser hochspannende Buch ist nur noch antiquarisch (gebraucht) zu erwerben (Amazon, ebay). (Fotomontage: -jf-)
Der Zusammenhalt habe die Borussia damals stark gemacht, lässt Wiegand die leider viel zu früh verstorbene Torwart-Legende Willi Ertz erzählen: „Borussia war ein Familienklub. Viele Spieler arbeiteten im Eisenwerk, nach den Spielen ging es ins Tanzcafé Hör. Da haben wir dann mit den Spielern und den Frauen gesessen. Wir waren wirklich Freunde.“ Doch als es mit Eisenwerk und Hütte, zwei tragenden Säulen des Borussen-Fundaments bergab ging, half auch das nicht mehr. Der kleine saarländische Klub, so Ralf Wiegand, habe es früh versäumt, Geld von auswärts zu holen. So sei es der Borussia ergangen wie manch anderen „Traditionsvereinen aus dem Bauch des Fußballs. Als der Sport noch regional organisiert war, waren sie alle groß. Dann erfand der Fußball sich neu, immer und immer wieder. Aus vielen Oberligen wurde eine Bundesliga, aus vielen Regionalligen wurden zwei Zweite Bundesligen, aus zwei Zweiten Bundesligen eine, aus den vielen Oberligen wurden viele Regionalligen, aus diesen Regionalligen eine dritte Liga. Und immer so weiter. `Wir waren die Verlierer jeder dieser Reformen´, sagt Jens Kelm.“ Das an die erfolgreichen Zeiten gewöhnte Publikum habe sich abgewendet. Der Beginn eines Teufelskreises, der die Borussia mehrfach an den Rand der Insolvenz geführt habe.
In einem weiteren Kapitel geht das Buch auch auf die mehr als umstrittenen Qualifikationskriterien für die Aufnahme in die neue Bundesliga 1963 ein. Unter der Überschrift „Rechnen bis zum Wunschergebnis“ wird die wenig transparente Konstruktion einer Zwölf-Jahres-Wertung von Reporter Boris Herrmann eingehend beleuchtet. Fest steht: „Neunkirchen war von 1912 bis 1963 ununterbrochen erstklassig. Sieben Jahre länger als der HSV.“ Dazu kamen ab 1958 in ununterbrochener Reihenfolge vier Vizemeisterschaften und ein Titelgewinn in der Oberliga Südwest sowie die Teilnahme am DFB-Pokalfinale 1959. „Und dann mussten wir da raus, weil irgendetwas Neues konstruiert wurde. Das ist hier immer noch ein Thema, das kann keiner richtig verstehen“, wird Jens Kelm zitiert. Am Ende stellt Boris Herrmann die Frage: „Warum eigentlich Zwölfjahreswertung? Und nicht Zehn- oder Vierzehnjahreswertung? In Neunkirchen verweisen sie in diesem Kontext auf einen eigenartigen Zufall. Neubergers 1. FC Saarbrücken stand zwölf Jahre vor Gründung der Bundesliga in einem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Das verschaffte ihm genau jene zehn Bonuspunkte, mit denen er sich in der Wertungstabelle an Pirmasens und Neunkirchen vorbeischob.“
Wie dem auch sei – die Realität heute heißt: Saarlandliga. Die neue Saison beginnt am kommenden Sonntag (Anstoß: 15.00 Uhr) mit dem Heimspiel gegen Aufsteiger SG Marpingen-Urexweiler. Diese Aufgabe gilt es, ungeachtet aller Tradition, demütig anzunehmen. Mag sein, dass die Borussia aus dem überregionalen Sport-Fokus verschwunden ist. Aber sie lebt: Wahre Liebe kennt eben keine Liga. Der Slogan aus dem Ludwigspark bringt es auch im Ellenfeld auf den Punkt. Die Leute, denen der Verein am Herzen liegt, haben sich in den letzten Wochen immens ins Zeug gelegt, bei der Pflege der Ferraro-Sportarena, bei der optischen Verschönerung des altehrwürdigen Stadions. Dort sprießt mittlerweile das erste zarte Grün des neuen Rasens. Eine Aussicht auf bessere Zeiten? „Das Stadion zerfällt wie ein altes vergilbtes Foto. (…) Betonstehlen lösen sich auf, Eisengitter rosten, Stufen senken und heben sich, wie sie wollen. Aber wenn man das Bild genau anschaut, sieht man doch die goldene Zeit hindurchschimmern“, glaubt Ralf Wiegand und schließt seinen Beitrag mit einem Appell: „Man wünscht der Stadt eine Idee, wie sie dem Verein auf die Beine helfen könnte, der sie bekannt gemacht hat. Bis heute.“(-jf-)
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Helmut Friberg, Fan von Hertha BSC und der Borussia, der die Beiträge aus dem Buch „15.30“ zur Verfügung gestellt hat! (-jf-)
Einmal mehr ein ganz großartiger Beitrag von unserem „Mediendirektor“ Jo Frisch, der uns Neunkirchern immer wieder aufs Neue beweist, wie viel Liebe ein Mann aus der ältesten Stadt Deutschlands unserer Borussia in Worten und Taten entgegenbringen kann. Dafür herzlichen Dank, lieber Jo!
Ein klasse Beitrag, ja so war das!
Ich hatte ihm im Industriedreieck die Kohlengruben gezeigt, das Fischbachtal als eines der saarländischen Kohlenbecken und vieles mehr. Vom Ellenfeld war er begeistert und von unserem (borussias) Archiv beeindruckt. Das hier erwähnte Buch ist selbstverständlich archiviert. Gerne kann es im Saarländischen Sportarchiv eingesehen werden.
Borussen, es muss weitergehen, wir müssen unsere Geschichte erzählen, die Menschen in Neunkirchen und im Saarland mitnehmen und unser Stadion gegen alle Widerstände erhalten!
Hoch lebe Eisen und Unser Ellenfeld, mehr als nur ein Stadion ⚒🏟⚒
Prof. Dr. Jens Kelm
ÄR der Borussia
Stadiongesellschaft Ellenfeld
ELLENFELD e.V.