Zur Situation im Amateur-Fußball: Messerscharfe Analyse mit „Thesen-Anschlag“

Der Fußballhistoriker Hardy Grüne referierte im VIP-Raum des Ellenfelds

Von Jo Frisch

Das „Gedächtnis des Fußballs“, wie ihn Tobias Fuchs, Vorsitzender des Ellenfeld e.V., in seiner Begrüßung nannte, war zu Gast im Neunkirchen. Der renommierte Fußball-Historiker Hardy Grüne beleuchtete, untermauert mit zahlreichen Daten und Fakten, am vergangenen Samstag im VIP-Raum des Ellenfeld-Stadions die problematische Situation des Amateurfußballs und zog dabei über 60 Zuhörer in seinen Bann. Auch Borussen-Trainer Björn Klos war mit der Mannschaft dabei. „Es gibt Termine, auf die freut man sich einfach. Am Samstag um 17 Uhr hab ich so einen. Da erzähle ich nämlich im Ellenfeld-Stadion zu Neunkirchen/Saar über die Situation des ambitionierten unterklassigen Fußballs in Zeiten des Turbokapitalismus. Einen passenderen Gastgeber als Borussia Neukirchen kann es für das Thema wohl kaum geben, und der Rahmen mitz dem wunderschönen Ellenfeld-Stadion ist geradezu perfekt“, schrieb Hardy Grüne auf seiner facebook-Seite zwei Tage zuvor. Und diese Freude merke man ihm an.

Hardy Grüne, ein Kind des Ruhrgebiets, wurde nach Umzug mit seinen Eltern fußballerisch bei Göttingen 05 sozialisiert und kommt aus einer Zeit, in der der Spitzenfußball noch breiter aufgestellt war. „Ich bin noch aufgewachsen mit Vereinen wie Röchling Völklingen, Gummi Mayer Landau, kenne den FC Ensdorf und hatte den kompletten Kader von Wacker 04 drauf“, erzählte Hardy Gründe in seinen einführenden Worten. Ihm sei es ein Anliegen, die Geschichte des Fußballs nicht separat zu sehen, sondern mit Industrie- und Gesellschaftshistorie zu verbinden. Und da müsse man in Zeiten des Turbokapitalismus unumwunden feststellen, „dass Geld den Unterschied ausmacht – wie im richtigen Leben!“ Für viele Vereine bedeute das, den nahezu unmöglichen Spagat hinzubekommen zwischen „Erfolg haben und authentisch bleiben“ – ein sehr emotionales und, was den Bereich „Geldgeber“ angehe, ein sehr brisantes Thema.

Der moderne Fußball, so Hardy Grüne in seiner Situationsanalyse, gliedere sich in verschiedene Bereiche: Die globalen Events, darunter die nationalen Profiligen, unterhalb derer sich der Unterbau (Regionalliga bis Landesliga und Bezirksliga bis Kreisklasse) befinde. Während der Fußball im Bereich Regionalliga bis Landesliga, oft verknüpft mit dem Halbprofitum noch leistungsorientiert arbeite und durchaus Zuschauerpotential besitze, finde der Spielbetrieb darunter meist nur wenig öffentliches Interesse. Dennoch: Auch unterhalb der 3. Liga sei das Zuschaueraufkommen massiv gesunken, bei viele Vereinen passierten nur noch zwischen 300 und 450 Fans die Stadiontore. Bei enorm steigenden Kosten (Spielergehälter, Stadionauflagen, Zuschauerservice, Kosten im Jugendbereich, Rückgang der Ehrenämter usw.) könnte der Spielbetrieb ohne Geldgeber nicht mehr finanziert werden. Doch die Gefahr, hier in Abhängigkeiten zu geraten, sei groß. Allerdings gebe es auch hausgemachte Probleme: Misswirtschaft und viel zu hohe Erwartungen hätten mancherorts für das Aus gesorgt.

Erste Zuschauereinbrüche habe es bereits Mitte der 50er Jahre, spätestens aber mit Einführung der Bundesliga gegeben. Als Beispiel führte Hardy Grüne Borussias Gegner im Pokalfinale von 1959, den ETB Schwarz-Weiß Essen an: Hier sei der Fan-Zuspruch von über 13.000 pro Spiel auf etwas mehr als 5.000 gesunken, nachdem sich der Verein nicht für die Bundesliga qualifizieren konnte. Die Angst vor dem Absturz in die für Traditionsvereine kaum noch zu finanzierende Regionalliga sei, so Hardy Grüne, für ihn deshalb mit ein Grund für den Bestechungssskandal 1971 gewesen. Nicht umsonst falle in diese Zeit auch der erste Rückzug eines Clubs aus dem Spielbetrieb (1965 die Sportfreunde Saarbrücken). Zudem habe man begonnen, die Vereinsnamen zu verkaufen – Grüne erinnerte in diesem Zusammenhang an Südwestvereine wie Röchling Völklingen, Gummi Mayer Landau oder Pegulan Frankenthal. Mit der Verengung der Ligapyramide wies Hardy Grüne auf ein Phänomen hin, das in der allgemeinen Diskussion zu wenig beachtet wird: „Vor Einführung der Bundesliga 1963 hat es in den alten Oberligen 74 Erstligisten und darunter über 100 Zweitligisten gegeben. Heute sind davon in erster und zweiter Liga gerade mal 36 übriggeblieben. Viele traditionsreiche Vereine sind rausgeflogen“, bilanzierte der Fußballhistoriker. Alles konzentriere sich auf die großen Vereine, deren Medienpräsenz enorm sei: „Das Fernsehen klaut die Zuschauer nicht in der ersten Liga, sondern darunter!“ So hätten sich die TV-Gelder als ein trennendes und die Grenzen zementierendes Element etabliert, die erste Liga werde langsam aber sicher zu einer geschlossenen Gesellschaft. Dass Traditionsvereine mit nach wie vor großem Fan-Potential bis in die Regionalliga und zum Teil noch tiefer abgerutscht seien, führe zu teilweise grotesken Situationen: So seien schon Spiele aus Sicherheitsgründen abgesagt worden, Vereine hätten lieber Strafgelder der Verbände bezahlt, die niedriger gewesen seien als in Sicherheitsmaßnahmen zu investierende Gelder! Bei diesen Entwicklungen sei es kein Wunder, dass es zwischen 1994 und 2015 zwischen 3. Und 5. Liga 317 Insolvenzen bzw. freiwillige Rückzüge von Clubs gegeben habe.

Hardy Grüne räumte ein, dass Lösungsansätze für solides Wirtschaften UND erfolgreiches Arbeiten schwer bis unmöglich seien, versuchte aber im zweiten Teil seines Vortrages dennoch einige Chancen aufzuzeigen. Dazu gehören für den 55jährigen regional übergreifende Zusammenschlüsse, die Schaffung von regionalen Sponsoren-Netzwerken, der Aufbau von Identifikationsfiguren, die etwas ausstrahlen, und das Eingehen auf das Publikum. Insgesamt heiße es: „Gründe liefern, damit die Leute ins Stadion kommen!“ Dies sei aber nicht im Sinne des Eventcharakters zu verstehen, sondern es gelte, das Spiel attraktiv zu machen. Grüne nahm hier auch die Verbände in die Pflicht, die zum Beispiel durch Unterstützung bei der Verwaltungsarbeit (u.a. Pass-Stelle) oder Übernahme der Schiedsrichterkosten die Vereine entlasten könnten. Allerdings habe man gerade bei DFL und DFB den Eindruck, dass nur noch das Geld zähle und von den Entwicklungen unterhalb der 3. Liga allenfalls am Rand Notiz genommen werde. „Wir müssen im Amateurbereich den Konkurrenzgedanken überwinden und brauchen eine starke Solidargemeinschaft, die gegenüber den Profivereinen mit Nachdruck auftritt“, so Grünes Appell.

Hardy Grüne schloss seinen Vortrag zum Überleben im Zeitalter des Turbokapitalismus nach knapp 120 Minuten – wie vor 500 Jahren Martin Luther – mit einem „Thesen-Anschlag“ zur Reformation des Amateurfußballs. Demnach sind Profi- und Amateurfußball komplett voneinander getrennte Welten, sowohl im Spielklassensystem als auch verbandstechnisch. Profifußball findet in den großen Stadien global gegen Bezahlung zur Unterhaltung der Bildschirm-Zuschauer weltweit statt. Der Amateurfußball ist regional und lokal. Er ist geprägt von Self-made-Vereinen, die entweder Fan-Vereine oder Community-Klubs sind. In sie bringt man sich persönlich ein, in ihnen werden die ganze Woche über gemeinschaftliche Erlebnisse angeboten mit dem Zweck, gemeinsame Erfahrungsräume für Menschen aller Kulturen, Geschlechter und Altersklassen zu schaffen. Dabei gibt es im Amateurbereich eine Ligapyramide bis hin zur deutschen Meisterschaft bzw. internationalen Vergleichen. Der Spielbetrieb ist nicht von kommerziellen Interessen geprägt, sondern von dem Bedürfnis nach Begegnung, gemeinsamen Erfahrungen und Werten. Für die Spiele geht man persönlich ins Stadion. Im höherklassigen Amateurfußball bilden sich regionale Teams wie zum Beispiel der FC Südniedersachsen, in denen die talentiertesten Spieler eingesetzt werden – diese Mannschaften bedienen für Spieler wie Publikum das Bedürfnis nach regionalem Halt in einer globalisierten Welt.

Tobias Fuchs bedankte sich im Namen des Ellenfeld e.V. sowie der Fanbetreuung Borussias, die den Vortrag Hardy Grünes ermöglicht hatten, bei dem Referenten und überreichte ein Borussia-Fan-Paket. Fan-Betreuer Björn Riehm und Uli Horbach vom Fanclub „Husaren“ waren mit der Veranstaltung insgesamt sehr zufrieden: „Die Resonanz war gut. Der Vortrag hat viele Fakten und Informationen miteinander verknüpft und auf dieser Basis sinnvolle Denkanstöße gegeben.“ Borussia bedankt sich bei den „Husaren“ für das Engagement. Der Dank gilt auch dem Hotel-Restaurant Hör und seinem Inhaber Carsten Hör, der sich ebenfalls als Sponsor der Veranstaltung engagierte.

„Ganz ehrlich: Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal ein Champions League-Spiel gesehen habe. Das mag ja toller Fußball sein, aber mir fehlt dabei das Entscheidende: Die Leidenschaft.“ Ein besseres Schlusswort hätte Hardy Grüne nicht finden können. (-jf-)

Unsere Bilder vermitteln Eindrücke von der Veranstaltung mit Hardy Grüne. (Fotos:-jf- / Jan-Sebastian Bach)

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