120 Jahre Borussia: Eine alte junge Dame feiert heute Geburtstag!

Jede Dame hat ihr kleines Geheimnis. Und gerne ist das ihr Alter. Früher hieß es immer, dass man eine Dame nicht nach ihrem Alter fragen soll. Doch eigentlich sollte diese Regel im Zuge der Emanzipation überholt sein. Und es ist sicher auch eine Frage der Emanzipation, mit dem Alter offen und unbefangen umzugehen. Heutzutage muss man – sicher auch wegen des demographischen Wandels – nicht mehr fürchten, wegen des Alters diskriminiert zu werden. Erst recht nicht die Fußballclubs: Die entgeisterte Frage: „Was? Schon 120?“ ist für die Borussia und all jene in den Gründerjahren um die Jahrhundertwende aus der Taufe gehobenen Vereine eher schmeichelhaft und wohltuend für´s Selbstbewusstsein, bezeugt ein solches Alter doch die traditionsreiche Geschichte.

1905 war ein spannendes Jahr. Die erste Frau erhält den Friedensnobelpreis, das Telegramm wird erfunden und die russische Revolution nimmt ihren Anfang. In Berlin regiert noch Kaiser Wilhelm II und an das „Saargebiet“ als eigenständige Region, geschweige denn an das „Saarland“ als Bundesland denkt noch niemand auch nur im Entferntesten. Neunkirchen hat sich zur größten Landgemeinde Preußens und zu einem Zentrum der Schwerindustrie im südwestdeutschen Raum entwickelt. „Unser Ort zählt nach der Volkszählung 32.358 Einwohner gegenüber 27.684 im Jahre 1900. Neunkirchen hat also in den letzten 5 Jahren um 4.674 Seelen zugenommen. Die Gesamtseelenzahl der Bürgermeisterei Neunkirchen beträgt 47.215 gegenüber 40.66 im Jahre 1900, die Zunahme also 6.560. Der Löwenanteil von letzterer fällt somit auf Neunkirchen“, berichtet nicht ohne Stolz der „Bergmannsfreund“, eine „Zeitung zur Unterhaltung und Belehrung der Bergleute“ in seiner Ausgabe Nr. 144. Trotz dieser Zahlen aber gilt Neunkirchen offiziell bis zur Erringung der Stadtrechte am 1. April 1922 (!) als das „größte Dorf Preußens“ – ein Titel, der den Neunkirchern nicht gefällt: Sie wollen Städter sein, mehr Rechte haben. 1905 gründet sich in der Hüttenstadt eine Kommission, die die aufgekommene Idee zur Einführung des elektrischen Lichtes in der Stadt erörtert und weiterentwickelt – Hintergrund war die Einführung der Glühbirne 1895 in Berlin und Hamburg. In Heinitz geht der erste 500 KW-Gasmotor der neu errichteten Gamaschinenhalle in Betrieb und versorgt Grubenbetriebe und Gemeinde Neunkirchen mit Strom. Ebenfalls 1905 wird am Oberen Markt das Cafe Sick eröffnet.

Da fangen einige Unverbesserliche an, den Ball mit Füßen zwischen zwei Pfosten am Spielfeldrand zu schießen. Wie die Chronik der Borussia bezeugt, spielt man unter der Leitung des am Progymnasium als Turnlehrer tätigen Lyzealrektors Küstner in den Schulturnstunden bereits einige Jahre vor der Jahrhundertwende (1899 auf 1900) Fußball und Hockey – allerdings ohne das komplizierte Regelwerk der beiden Kampfspiele immer genau zu beachten. „Immerhin spielten auf dem Schulhof zwei Mannschaften mit einem normalen Lederfußball gegeneinander und suchten ihn, nur die Füße benutzend, ins Tor des Gegners zu befördern, Handberührungen bestrafte Schiedsrichter Küstner nach schrillem Pfiff mit Freistoß oder Elfmeter. Damit waren ja wohl die wichtigsten Voraussetzungen zur Anerkennung dieses Sportkampfes als Fußballspiel gegeben“, schreibt Chronist Albrecht Menzel.

Hier wird die Borussia aus der Taufe gehoben: Das Gründungslokal in der Wirtschaft „Zu den drei Kaisern“. (Foto: Ellenfeld-Verein / Archiv Borussia Neunkirchen)

Bis zur Gründung eines ersten Vereins in Neunkirchen sollen aber noch ein paar Jahre vergehen. Borussen-Gründungsmitglied Otto Fried hat die Vorgänge aufgezeichnet und berichtet in Übereinstimmung mit Albrecht Menzel davon, dass Fußball eher „in systemloser Weise mit Anklängen an Rugby betrieben wurde – immerhin Anfänge, die den Sinn für Fußball erweckten.“ Der damalige Oberlehrer Trösken, so Otto Fried, habe am hiesigen Realgymnasium zum ersten Mal nach den Association-Regeln im Jahre 1902/03 spielen lassen. Doch um Borussia zum Leben zu erwecken, waren Internatsschüler aus Frankenthal als Geburtshelfer nötig. Einer von ihnen: Otto Fried. Er erinnert sich an die dort empfangene Inspiration: „Ostern 1904 verließ ich, wie viele meiner Klassenkameraden, die Anstalt und besuchte das Real-Lehrinstitut in Frankenthal. Damals existierte dort schon ein Fußballverein. Der Besuch der Wettspiele dieses Vereins ließ in mir den Gedanken reifen: `Wenn du nach Hause kommst, dann werden sich schon gleichgesinnte Seelen finden, mit denen du einen Fußballverein gründen kannst.´“

Wie gedacht, so getan. Am 5. Juli 1905 nach Neunkirchen zurückgekehrt, vereinbart Otto Fried mit Reinhold Wilhelmy, der vorher schon in Bad Kreuznach gespielt hat, die Gründung eines Vereins. Am selben Abend noch können mit Jakob Schroer, Hans Werle, Robert Anschütz, Peter Jung, Peter Anspach und Julius Sperling weitere Begeisterte für die Sache gewonnen werden. Knapp drei Wochen später, am 24. Juli 1905, findet in der Wirtschaft „Zu den drei Kaisern“ die Gründungsversammlung statt. Außer den bereits genannten sind anwesend folgende namentlich bekannte Teilnehmer: Felix Künzer Ludwig Reich, Fritz Hilbert, Otto Wilhelmy, Georg Schnepp und Albert Werner. Bei der Wahl des Vereinsnamens wird von dem Pfälzer Hilbert, so weiß Otto Fried, die lateinische Bezeichnung für Preußen, „Borussia“, vorgeschlagen – ein Name, der auch als Personifizierung des Staates Preußen und damit eine Nationalallegorie darstellt. Über den Grund für diesen Namen schweigen die Quellen. Womöglich wurde die Bezeichnung gewählt, weil Neunkirchen in den westlichen Provinzen lag, die im Rahmen des Wiener Kongresses von 1815 dem Königreich Preußen zugesprochen wurden.

Skurrile „Fastnachtsnarrenkluft“: Eines der ersten Teamfotos, entstanden beim Training auf der Drexler´schen Wiese hinter dem Lämmerhof. (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen)

Als Vorstand gehen bei den ersten Vereinswahlen am selben Abend Julius Sperling (1. Vorsitzender), Reinhold Wilhemy (1. Kapitän), Otto Fried (2. Kapitän), Johann Werle (Gerätewart) und Jakob Schroer (Platzwart) hervor. Als Trainingsplätze werden der Schlackenplatz an der Königsstraße und die Lindenallee gewählt. Hilbert sei, so Otto Fried, mit 20 Jahren der älteste Spieler gewesen, die Anderen standen im Alter von etwa 17 Jahren. Die ersten Wettspiele hätten „mächtiges Gelächter und viel Spott“ erregt – kein Wunder, gilt das Spiel doch vielen Menschen der damaligen Zeit als nicht ernst zu nehmende „Fußlümmelei“.

Und noch etwas müssen die Neu-Borussen in dieser Zeit regeln: Die Spielkleidung. Die darf nämlich nicht willkürlich gewählt werden. Alles, was zum Spiel mit dem runden Leder gehört, muss, so ist es in der Chronik nachzulesen, beim damals einzigen deutschen Sportartikel-Geschäft A. Steidel in Berlin bestellt werden, das die Waren wiederum aus England, dem Mutterland des Fußballs, bezieht. Die Borussen wählen für den Anfang einen recht bunten Dress, der heutzutage nahezu skurril anmutet: In den Farben Schwarz und Rot geviertelte Sweater, blaue Kniehose mit breitem rotem Generalsstreifen, schwarz-rot geringelte Strümpfe und eine in denselben Farben geringelte Kappe, dazu zünftige Fußballstiefel. Der Mannschafskapitän trägt als Zeichen seiner Würde eine breite Schärpe in den Vereinsfarben – eine Kluft, die ein Neunkircher Kommunaldelegierter, von Beruf Arzt, in einem öffentlich verteilten Flugblatt „gesundheitsschädliche Fastnachtsnarrenkluft“ bezeichnet. Doch allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz vergrößert sich die Anzahl der Mitglieder schnell sehr stark, auch wenn das erste Wettspiel am 12. November 1905 gegen den SC Saar 05 Saarbrücken mit einer 0:10-Niederlage nicht gerade motivierend endet.

Die erste Meistermannschaft im Saargau B I mit Anschütz, H. Jennewein, E. Künzer, Zimmermann, Werle (obere Reihe v.l.), Turk, O. Jennewein, A. Menzel (mittlere Reihe v.l.) und Schroer, Werner und E. Menzel (untere Reihe, v.l.). (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen)

Inzwischen haben sich weitere Fußballgemeinschaften gegründet: Die „Fußballriege“ des Turnvereins von 1860, die sich 1906 im „Sport-Club von 1906“ von den Turnern abspalten, und die „Turn- und Spielvereinigung am Realgymnasium, die sich 1907 mit der Borussia zusammenschließen und mit Blick auf die Erweiterung des Sportprogamms den Namen annehmen, um den sich heute die ganze stolze Tradition des Neunkircher Sports rankt: „Borussia, Verein für Bewegungsspiele e.V.“ Anstelle der bisherigen Clubfarben wählt man für die neue Sportgemeinschaft Schwarz und Weiß und kreiert das heute allgemein bekannte Borussia-Wappen, konstruiert nach den Gesetzen des goldenen Schnitts.

Die Geschehnisse um die Vereinsgründung – sie sind wertvolle Dokumente deutscher Fußballgeschichte und beeindruckende Dokumente des Zeitgeschehens vor 120 Jahren. Und die Borussia? Sie hat bis heute die Zeiten überdauert, Höhen und Tiefen gemeistert. Ein hohes Maß an Idealismus, den viele ehrenamtliche Mitarbeiter dabei unter Aufopferung ihrer Freizeit Tag für Tag aufbrachten und auch heute aufbringen, haben das Bestehen gewährleistet und sind nicht hoch genug einzuschätzen. Nicht zu vergessen: „Klassenzugehörigkeit und vordere Tabellenplätze sind in einem Verein sicher sehr wichtig, aber eben nicht alles. Vorbildliche und erfolgreiche Nachwuchsarbeit sind ein schlagender Beweis für gut funktionierende Vereinsarbeit“, daran hat der frühere Vorsitzende des Neunkircher Sportverbandes, Hans-Artur Gräser, in seinem Grußwort zum 100jährigen Bestehen der Borussia erinnert. Auch da sind die Borussen – nach schwierigen Jahren – wieder gut aufgestellt und dürfen zuversichtlich in die Zukunft schauen. Für ihr Alter muss sich die alte junge Dame wahrlich nicht schämen, im Gegenteil! Deshalb heute zum 120. Jahrestag: Happy birthday, Borussia!