Erinnerungen an Uwe Seeler

Ein ganz persönlicher Nachruf von Jo Frisch

Unser Bild: Uwe Seeler im Ellenfeld – das HSV-Idol (li.) gemeinsam mit Borussias Erich Leist auf der Suche nach dem Ball. Die Borussen und die Hamburger trennten sich im August 1965 schiedlich-friedlich 1:1. (Foto: Ellenfeld-Verein / Archiv Borussia Neunkirchen)

Uwe Seeler ist tot. 85jährig ist der Mann, der als einer der besten Stürmer der Welt galt und bei seinem Verein, dem Hamburger SV, zum Idol wurde, zuhause ganz friedlich eingeschlafen. Im Zeitalter des Internets ist es keine Kunst, sich mit den Zahlen seines Erfolges, seiner Titel, seiner Tore und seiner Triumphe zu informieren. Doch Zahlen sind Schall und Rauch. Mir persönlich hat neben dem Sportler vor allem der Mensch Uwe Seeler imponiert. Im Ellenfeld-Stadion durfte ich ihn höchstpersönlich spielen sehen – ein nachhaltiges Erlebnis mit Auswirkungen bis heute.

Es war im September 1964. Vor Aufregung konnte ich kaum schlafen. Der 8jährige Jo platzte fast vor Vorfreude auf die Fahrt nach Neunkirchen. Versprochen hatte sie mir mein Vater. Mit ihm besuchte ich schon früh manches Fußballspiel im Moselstadion meiner Heimatstadt Trier. Da kickte ein gewisser Paul Pidancet. Richtig gut war er, der Paul. Mein Vater kannte den gebürtigen Trier-Süder durch Kontakte in der Volksbank. Viele Freunde der Eintracht waren traurig, als Paul Pidancet, gemeinsam mit dem „blonden Engel“ Elmar May Trier verließ und bei der Borussia in Neunkirchen anheuerte. „Wenn die Borussia mit Paul und Elmar in die Bundesliga aufsteigt, fahre ich mit Dir ein Spiel anschauen“, versprach mir mein damals noch gar nicht so alter Herr. Versprochen ist versprochen!

Im September 1964 war es dann endlich soweit. Gegen den HSV mit Uwe Seeler wollten wir die Borussia sehen. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir mit dem Auto unterwegs waren. Eine A1 oder A8 Richtung Neunkirchen gab es damals noch nicht. Egal – die Hinfahrt kam mir jedenfalls unendlich lang vor. Wie immer, wenn man einem besonderen Erlebnis entgegenfiebert, werden Minuten zu gefühlten Stunden. In der Hüttenstadt angekommen Menschen über Menschen! Wo wir unser Auto abgestellt haben, weiß ich nicht mehr. Den Weg zum Ellenfeld legten wir jedenfalls in einer regelrechten Prozession zurück. Mit jedem Schritt näher zum Stadion pochte mein Herz höher zum Hals. Noch ein bisschen Geduld beim Schlange stehen zum Kartenkauf, dann ging es neben der Sporthalle die Stufen hinauf.

Schon 1963 kreuzte der HSV die Klingen mit der Borussia: Doch auch wenn Günter „Schäumche“ Schröder (dunkles Trikot) Uwe Seelers Geschoss in dieser Szene nicht abblocken konnte, blieb die Borussia vor 43.000 Fans im Saarbrücker Ludwigspark im Rahmen der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft mit 3:0 obenauf (oben). Vergeblich auf der Jagd: Uwe Seeler (li.) ist Erwin Glod und Hennes Schreier entwischt. Szene aus dem Endrundenrückspiel im Volkspark, wo die Borussia mit 1:1 einen Achtungserfolg erreicht. (unten) (Fotos: Ellenfeld-Verein / Archiv Borussia Neunkirchen)

Der Anblick der vielen Zuschauer rund um das Spielfeld raubten dem Jungen aus Trier den Atem. Vor allem die mächtige Spieser Kurve, die, wie ich später feststellte, eigentlich keine Kurve ist, beeindruckte mich sehr. Sie war noch im Bau, die Beton-Gerippe ragten in den hellen Himmel. Ich schloss die Augen und malte mir mit beflügelter Phantasie aus, wie diese Tribüne wohl aussehen werde, wenn sie fertig und proppenvoll ist! Einige Waghalsige hatten schon in luftiger Höhe auf den Stützen Platz genommen. Ebenso saßen sie in großer Zahl auf dem Dach der Borussen-Halle, die Wiese zur Schlossbrauerei machte für mich keinen grünen, eher einen schwarzen Eindruck vor lauter Menschen! Eine so große Kulisse hatte ich im Moselstadion noch nicht live erlebt!

Doch dann kamen sie! „Dorsch dene Gang sinn se alle gar gang“ – das klackende Geräusch der Schraubstollen kündigte die beiden Mannschaften an: Der HSV und die Borussia, mir noch nicht so vertraut. Gut, durch die Leidenschaft für die Sammlung der bunten Sicker-Bildchen, sorgfältig ins Album eingeklebt, waren einem die Gesichter schon ein wenig bekannt. Die kleinen Porträts konnte man bei Zeitschriften- und Papierhändlern oder im Schreibwarenladen erstehen, 10 Pfennig das Päckchen, die Stars der neuen Fußball-Bundesliga sogar in Farbe – in den noch ganz schwarz-weiß geprägten 60er-Jahren eine echte Sensation! Doch so ganz aus der Nähe war der Anblick was ganz Besonderes. Gänsehautmoment – das beschreibt es ganz gut. Wir standen fast ganz unten am Spielfeld, näher als im Ellenfeld konnte man dem Geschehen kaum sein. Mein besonderes Augenmerk galt natürlich Paul Pidancet und Elmar May, auf HSV-Seite hatte ich schnell Uwe Seeler erspäht.

Vom Spiel selbst weiß ich nur noch wenig. Nur so viel: Unsere beiden Ex-Trierer waren maßgeblich daran beteiligt, dass die Borussen den ersten Bundesligasieg errangen! Paul Pidancet köpfte die Borussia früh in Führung, Uwe Seeler glich aus. Aber noch vor der Pause traf Elmar May – 2:1, der Jubel war enthusiastisch, war wohl weit über ganz Neunkirchen hinaus zu hören! Achim Melchers 3:1 nach dem Seitenwechsel schien alles klar zu machen. Doch dann humpelte Paul Pidancet – ausgerechnet Paul Pidancet! – verletzt vom Platz. Auswechslungen waren in der Pionier-Zeit der Bundesliga noch nicht möglich. Jetzt mussten es zehn Borussen richten! Sie schafften es. Zum Schluss waren auch die Hamburger zahlenmäßig dezimiert: Verteidiger Kurbjuhn musste den Platz wegen Schiedsrichterbeleidigung verlassen. Uwe Seeler passte das gar nicht: Vehement protestierte er bei Schiedsrichter Kurt Handwerker.

Kopfball Paul Pidancet: Borussia führt im September 1964 früh mit 1:0 gegen den HSV, links beobachtet Günter Heiden den wuchtigen Kopfstoß seines Mitspielers. (Foto: Ellenfeld-Verein / Archiv Borussia Neunkirchen)

Trotz der Freude über den Sieg der Borussia mit Elmar May und Paul Pidancet: Der sympathische und stets faire Sportsmann Uwe Seeler, der mit seinem favorisierten HSV gerade im Ellenfeld die erste Saisonniederlage zu verdauen hatte, tat mir irgendwie leid. So leid wie später bei der WM 1966, als er nach dem mit 2:4 gegen England verlorenen Finale mit hängendem Kopf, von zwei englischen Bobbys eskortiert, vom Platz schlich – ein Häufchen Elend! Als „uns Uwe“ bei der WM in Mexiko später mit seinem Tor per Hinterkopf – instinktiv, ohne das Tor überhaupt zu sehen – beim 3:2 gegen die „Three Lions“ die Revanche gelang, machte er mich zu nachtschlafender Stunde vor dem Fernseher nicht nur glücklich, sondern auch stolz und – spätestens jetzt – zum Uwe-Fan.

Leider gelang es uns im Ellenfeld nach der Partie im Freudentaumel der Borussen-Fans weder Paul Pidancet zu treffen noch ein so begehrtes Autogramm von Uwe Seeler zu ergattern. Doch das, was ich da im Ellenfeld erlebt hatte, wirkte nach. Lange, ganz lange, bis heute. Ich hatte meine Liebe zur Borussia entdeckt. Am nächsten Tag wurde auf dem Bolzplatz manche Szene aus dem Ellenfeld nachgespielt. Auch musste das Taschengeld herhalten, um den Kicker, das Sportmagazin und die Fußballwoche zu kaufen. Ich wollte unbedingt lesen, was über das Spiel geschrieben, wie es bewertet wurde, wen die Fußballexperten lobten, wen sie kritisierten. Zugegeben: Alles verstanden habe ich am Anfang nicht, musste mich erst einlesen, mich mit manchen Fachbegriffen vertraut machen. Doch von da an gab es keinen Montag mehr ohne Lektüre, ja sogar Studium der Fußball-Fachzeitschriften. Ob da schon der Keim gelegt wurde zur Vorliebe, das sportliche Geschehen auf dem grünen Rasen und alles drumherum in Worte zu fassen? 

Die Borussia habe ich danach nie wieder aus den Augen verloren. Meine alte Liebe zur Borussia lebt. Irgendwie verbinde ich sie mit Uwe Seeler, mit diesem einen besonderen Spiel im Ellenfeld. Denn die Gelegenheit, Uwe Seeler zu sehen, war ausschlaggebend für die Wahl des HSV-Spiels. Dafür bin ich dankbar. Welche Facetten ich noch mit dem Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft geschätzt habe: bodenständig, bescheiden, nahbar, realistisch, ehrlich. Er drängte sich nie in den Vordergrund, hielt mit seiner Meinung aber auch nicht hinter dem Berg, wenn man ihn fragte. Vereinstreue war ihm etwas wert: Verlockende Angebote aus aller Herren Länder sind ihm ins Haus geflattert, allein: „Uns Uwe“ blieb seinem HSV treu.

Dabei war gerade dieser Spitzname Programm: „Uns Uwe“. „Einen solch besonderen Namen hatte keiner seiner Weggefährten. Normalerweise hören die Granden der deutschen Fußballgeschichte auf Namen wie `Kaiser´ (Franz Beckenbauer), `Bomber´ (Gerd Müller) oder `König´ (Otto Rehhagel). Aber  `Uns Uwe´? Gerade in der Enkelgeneration wussten viele oft nicht so recht, was der sonore ältere Herr aus `Hamburch´ eigentlich mit `uns´ zu tun hatte. Wenn sie ihn dann aber im Fernsehen sahen, erschien plötzlich alles ganz logisch“, schreibt Alexander Kohne in einem Nachruf auf t-online.de. Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer: Danke, Uwe, für all das, was Du mit Deiner Art, den Fußball zu präsentieren, den Menschen gegeben hast! Ruhe in Frieden! (-jf-)

8 Kommentare

  1. Lieber Joe Frisch,
    einen besseren Nachruf auf den Ehrenspielführer der
    Fußballnationalmannschaft kann man nicht schreiben!
    Danke, Uwe ist so authentisch beschrieben!
    Beim Spiel gegen den HSV war ich auch anwesend.
    Mit sportlichem Gruß
    Werner Bohr, Ffm.

  2. Besonders erwähnt werden sollte, dass die drei Borussen Torschützen im Ellenfeld exakt denen in gleicher Reihenfolge entsprachen, wie bei Sieg im Ludwigspark in der Endrunde zur DM!

  3. Würden es noch Spieler mit diesem Charakter im Profifußball geben,würde ich mir immer noch Bundesligaspiele anschauen.aber mit diesen Geldgeilen und sich aus einem Vertrag rausstreikenden Profis habe ich nichts mehr am Hut.

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