11. März 2020. Heute exakt vor einem Jahr fing es an. Das rheinische Fußballderby zwischen den Gladbacher Borussen und den Kölner Geißböcken im Borussia-Park war das erste Geisterspiel im Zeichen Coronas. Seitdem sind sie da, die Geister, die keiner rief, seitdem sind – mit wenigen Ausnahmen an den ersten sechs Spieltagen zu Beginn der Spielzeit 2020/21 im Herbst – die Ränge leer, im Amateurfußball seit Mitte Oktober 2020 sogar auch alle Plätze. Gespenstische Atmosphäre rund um die Stadien, auch rund ums Ellenfeld. „Fußball ist auf seine Essenz reduziert. Die Fans sind innerlich zerrissen. Ein Jahr Geisterspiele – und was es angerichtet hat.“ Dieser Fragestellung geht Deutschlands größte Sportzeitung KICKER-Sportmagazin in seiner Montagsausgabe vom 8. März auf 18 Sonderseiten nach. Zu Wort kommen Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Vereinsvorstände, Fans, Reporter und Imbissbuden-Betreiber – ein lesenswertes Kaleidoskop an Meinungen aus ganz unterschiedlichen Sichtweisen. An dieser Stelle ein paar Auszüge:
„15.30 Uhr ist in Deutschland der magische Moment, an dem Fußball losgeht. Man strukturiert bis zu einem gewissen Grad sein Leben um ihn herum.“ (Gunter Gebauer, Philosoph und Sportsoziologe)
„Wir haben immer gedacht, es gehe uns beim Fußball nur um das pure Spiel, und alles andere, was wir naserümpfend oft genug als das Event drum herum empfunden haben, sei auch nicht so wichtig. Ist es aber! Das merken wir jetzt.“ (Arnd Zeigler, Stadionsprecher Werder Bremen und Autor der Fernsehsendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“)
„Singen, anfeuern, tanzen – all das: Einfach weg. Pöbeln, fluchen, schreien – bis auf Weiteres verebbt. Gefühle, Zusammenhalt, Gemeinschaftserlebnis – ausradiert. Der Fußball wird geschält, bis nur noch der Kern übrigbleibt.“ (Uwe Röser, Kicker-Redakteur)
„In der Tat: Mit zwei Mannschaften, einem Ball und zwei Toren stellt man Fußball her, im Park oder in einem großen Stadion. Aber die da draußen geben dem Ganzen eine Seele.“ (Jorge Valdano, argentinischer Nationalspieler, Weltmeister 1986, in der Süddeutschen Zeitung)
„Die emotionalen Ausschläge sind weg. Ich fahre zur Arbeit, so fühlt es sich derzeit an.“ (Nils Petersen, Stürmer des SC Freiburg)
„Als ich mit meinem Papa in Bochum mein erstes Profispiel gesehen habe, war ich sechs oder sieben Jahre alt. Das hat mich nie wieder losgelassen. Wenn du als Kind ein volles Stadion erlebst, willst du irgendwann da unten auf dem Feld stehen. Das treibt dich an. Dieses besondere Gefühl gibt es derzeit nicht. Wir gehen unserem Beruf nach, wir spielen unser Spiel, es wird übertragen. Fertig.“ (Andreas Luthe, Torwart Union Berlin)
„Für die Jungs, die im Sommer aus der Regionalliga zu uns gekommen sind, ist es ein Vorteil. Sie können sich rein auf ihre Leistung konzentrieren, ohne die Emotionen eines Hexenkessels verarbeiten zu müssen.“ (Frank Schmidt, Trainer 1. FC Heidenheim)
„Emotionale Diaspora!“ (Florian Kohfeldt, Cheftrainer Werder Bremen)
„Fußball ohne Fans – das nimmt den Spielen die gewohnte und geliebte Atmosphäre. Das Publikum fehlt den Teams als Multiplikator und als Korrektiv. Es ist ein bisschen so wie vor 20 Jahren, als ich in Greifswald oder Rathenow in der Oberliga gepfiffen habe. Man fährt hin, macht seinen Job, hört von draußen kaum etwas und fährt wieder heim. Keine Frage: Mir fehlt das typische Bundesliga-Flair!“ (Manuel Gräfe, seit 2004 Schiedsrichter in der Bundesliga)
„Diese 90 Minuten Spielzeit sind auch dazu da, dass man sich so benehmen kann, wie man es auf einem Fußballplatz eben tut. Da entmenscht man sich, aber auch dafür ist diese Veranstaltung da. Ich gehe als halbwegs zivilisierter Mensch ins Stadion, und wenn es losgeht, sage ich viele Sachen, die mir woanders nicht über die Lippen kommen würden. Trotzdem schaue ich die Geisterspiele immer noch, weil ich aus dieser Nummer nicht herauskomme, aber es ist halt mehr oder weniger eine Zumutung.“ (Fritz Eckenga, Fan und Dauerkartenbesitzer Borussia Dortmund)
„Wenn ich ehrlich bin, ist mir der Fußball gerade total Wurst. Das Einzige, was mich davon abhält, meine Mitgliedschaft zu kündigen: Man trennt sich nicht, wenn es dem Partner dreckig geht.“ / „Klar bin ich noch für meinen Verein, aber die emotionale Bindung ist weg.“ / „Die wahre Liebe zu seinem Verein wechselt man nicht wie Unterhosen. Ich bin doch kein Erfolgsfan.“ (Benni, Paul und Benedikt, Fans des 1. FC Nürnberg)
„Ich habe einen richtigen Phantomschmerz. In den sozialen Medien bekomme ich immer wieder angezeigt, wo ich vor einem Jahr, vor zwei oder fünf Jahren war, und es kommen keine neuen Erinnerungen hinzu. Und dann siehst du ein Spiel im Fernsehen und weißt genau, wie es in diesem Gästeblock aussieht und was für eine Stimmung dort herrschen würde, wenn die Eintracht direkt davor ein wichtiges Tor erzielt und gewinnt. Dass das im Moment nicht geht, daran gewöhnt man sich nicht.“ (Basti Roth, Fan von Eintracht Frankfurt)
„Ich finde es sehr deprimierend, ins leere Stadion zu gehen, das macht mir keinen Spaß. Da habe ich lieber einen Platzsturm als das.“ (Hajo Sommers, Präsident Rot-Weiß Oberhausen)
Noch in Erinnerung? In der Stuttgarter Mercedes-Benz-Arena wurde am 9. März 2020 die letzte Partie im deutschen Profifußball mit regulärer Kulisse ausgetragen. 54.307 Fans erlebten das 1:1 im Montagsspiel der 2. Liga zwischen dem VfB und Arminia Bielefeld.
Liebe Borussen-Fans, wie denkt Ihr über die oben geäußerten Gedanken? Wie habt Ihr die Situation der vergangenen Monate erlebt? Wie seid Ihr mit den fehlenden Emotionen und Gemeinschaftserlebnissen im Ellenfeld umgegangen? Was macht Euch Hoffnung? Welche Auswirkungen, denkt Ihr, hat die lange Spielpause? Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft? Schreibt es auf und teilt es in Euren Kommentaren zu diesem Beitrag – Borussia freut sich auf Eure Meinung! (-jf-)
Fußball kann man nicht einfach nur rational erklären. Fußball hat etwas Magisches, nicht nur für Spieler und Trainer, sondern insbesondere auch für dich als Zuschauer. Du kannst in einer Arena 90 Minuten lang Emotionen ausleben, dich mit Gleichgesinnten über Mannschaftsaufstellungen, Taktik, Fehler und Fehlentscheidungen unterhalten. Du kannst jubeln, schimpfen, fluchen und dich auf tausend andere Arten ins Spiel einzubringen versuchen.
Das Tor, das deine Mannschaft erzielt, ist ein bisschen auch dein Tor, während du jeden Gegentreffer natürlich verhindert hättest, wenn die Jungs nur so gespielt hätten, wie du es ihnen von den Rängen aus vorgegeben hast. Beim Sieg deiner Mannschaft gehst du mit stolz geschwellter Brust nach Hause, während du bei einer Niederlage noch Stunden später mit dem Schicksal haderst. Und du bist felsenfest davon überzeugt, dass es beim nächsten Mal besser laufen wird.
Während die Spieler unten Fußball spielen, lebst du ihn auf den Rängen mit allen deinen Sinnen. Fußball ist ein legitimes Ventil, um mal für kurze Zeit Dampf abzulassen und für ein paar Stunden dem Alltag zu entfliehen. Das kannst du nicht bei Geisterspielen, auch nicht bei solchen, die über den Bildschirm flimmern. Fußball ist (d)eine Droge, die zwar süchtig machen kann, aber keine schädlichen Nebenwirkungen hat.
Und all das wird dir mit einem Schlag völlig genommen. Nein, nicht von einem winzig kleinen Virus, sondern von denen, die vorgeben, dich davor schützen zu müssen. Schützen ausgerechnet an einem Ort im Freien, der so viel Platz für Abstand bietet, während es weitaus gefährlichere Bereiche gibt, beispielsweise auf deinem Arbeitsplatz oder im Bus, im Zug oder in der U-Bahn. Wer schützt uns eigentlich vor unseren Beschützern, die während dieser Pandemie in einem unbeschreiblichen Ausmaß Fehler gemacht und versagt haben? Man kann daher nur inständig hoffen, dass in unserem Land nicht noch Schlimmeres passiert, und dass diesem Geisterspuk bald ein Ende gesetzt wird.
„Die da draußen geben dem Ganzen eine Seele!“ – Borussia Neunkirchen