Sternstunde Aufstiegsrunde (4)

Aus der Historie – Borussia steigt in die Bundesliga auf / Kleine Serie, Teil 4 – heute vor 60 Jahren: Überraschendes 2:0 beim FC Bayern – Willi Ertz der „Held von München“

Unser Bild: Bei diesem Kopfballversuch noch ohne Erfolg, später sollte er mit seinem Tor zum 2:0 neben Willi Ertz zu einem der Matchwinner werden: Borussias Stürmer Günter Kuntz. (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

Die Dinge schienen ihren Lauf zu nehmen. Als die Hälfte der Aufstiegsrunde gespielt war, führte der Favorit aus München erwartungsgemäß die Tabelle an. Zwei Punkte Vorsprung vor Tasmania Berlin, gar drei vor den Borussen aus dem Saarland und Nordmeister FC St. Pauli, dazu zwei Heimspiele auf Giesings Höhen vor der Brust – was sollte da noch schiefgehen? Die Bayern hatten, so Berichterstatter Hans Schiefele im „Kicker“ sogar schon neue Visitenkarten drucken lassen, diskutiert wurde lediglich um die Höhe des Sieges. Doch es sollte anders kommen. Ganz anders!

Mitentscheidend ein Personalwechsel, über den sich Trainer Horst Buhtz geradezu den Kopf zerbrochen hatte: Wen sollte er zwischen die Pfosten stellen? Nach dem desaströsen 1:5 von Berlin am ersten Spieltag war Willi Ertz zweite Wahl geworden, die 0:1-Niederlage im Ludwigspark gegen die Bayern hatte Horst Kirsch mit seinem Patzer vor dem entscheidenden Gegentor zu verantworten. Da war jetzt guter Rat teuer. Die Entscheidung, den „langen Willi“ wieder ins Tor zu beordern, war Horst Buhtz nicht leicht gefallen, aber es sollte die Entscheidung des Turniers werden. Horst Kirsch war erst gar nicht mitgefahren, als die Borussen schon zwei Tage vorher zu einem Kurztrainingslager an den Ammersee (im Seeheim Wartaweil, der Immobilie des Bayrischen Fußballverbandes) aufgebrochen waren, bereitete sich in Merchweiler auf sein Techniker-Examen vor. „Es durfte ja eh nicht ausgewechselt werden, also reichte es, wenn nur ein Schlussmann mit auf die Reise ging“, erinnerte sich die fast 2 Meter lange Torwart-Legende Willi Ertz, der trotz aller Rivalität stets ein gutes Verhältnis zu seinem Teamkameraden hatte. Horst Buhtz demonstrierte derweil Zweckoptimismus: „Wir werden uns nicht verstecken, und wenn wir mit fliegenden Fahnen untergehen!“

Für Günther Wolfbauer, den Fernsehreporter des Bayrischen Rundfunks (BR), fiel die Entscheidung in diesem Spiel an jenem regnerischen Nachmittag des 18. Juni 1964 „schon in den ersten Minuten, denn da hatten die Bayern eine Reihe von großen Chancen, die der Torhüter der Gäste, Willi Ertz, in großartiger Manier vereitelte – das machte ihn so selbstbewusst wie die Münchner Stürmer nervös!“ In der Tat raubte Borussias Torhüter mit spektakulären Reaktionen gegen Rainer Ohlhauser und Dieter Brenninger mehr und mehr den Nerv, bekam immer wieder die Hände und Füße dazwischen. Die Zeitungslandschaft überbot sich später in Superlativen, bescheinigte ihm eine „Weltklasse-Leistung“, sprach vom „Mann mit den tausend Händen“. Und der „Kicker“ kommentierte: „Einzig bei Torwart Ertz können sich die gewiß tapferen und auch cleveren Borussen bedanken, dass sie vor einem frühzeitigen Rückschlag bewahrt blieben. Kirsch bekam wegen seines bevorstehenden Examens keinen Urlaub, sein Stellvertreter Ertz machte nicht einen Fehler, trieb den Bayern den Angstschweiß ins Gesicht.“ Die Bestnote bekam auch Erich Leist: Vom Ex-Marpinger hieß es, er habe die Abwehr hervorragend geführt und gegen die immer wieder durch die Mitte Erfolg suchenden Bayern rechtzeitig formiert. Auch der eisenharte Günter Schröder wird hervorgehoben: „Ein Musterbeispiel für hingebungsvollen Einsatz“, allerdings auch „mit einem Dutzend Fouls ohne ernsthafte Verwarnung“ durch Schiedsrichter Niemeyer aus Bad Godesberg.

Nach dem Borussen-Sieg in München: „Jeder kann noch aufsteigen!“ – „Ertz hielt alle Bayern-Schüsse“ – so lauten die Headlines im Fachmagazin „Kicker“ (Fotos: -jf-)

Das Spiel der Bajuwaren dagegen, so der „Kicker“, gestaltete sich als ein einziges „Hätte, wenn und aber“: „Wenn Brenningers Schuß in den ersten zehn Minuten nicht an den Außenpfosten gekracht wäre, wenn Brenninger den Ball aus einem Meter Entfernung über die Linie gebracht hätte, wenn … dann wären die Münchener schon nach einer Viertelstunde mit 4:0-Toren in Führung gegangen“, ist im Sonderbericht auf Seite 5 zu lesen. Dann kam das, was in solchen Spielen so oft vorkommt: Nach einer Flanke verlängert Melcher per Kopf auf Kuntz, der köpft und Bayerns Kunstwadl verhindert mit seiner rechten Hand den Einschlag ins Tor – Handelfmeter (24.)! Der Mann für solche Fälle: Karl Ringel. Der erfahrene Borussen-Kapitän ließ sich auch von Bayerns Nationalspieler Herbert Erhardt nicht beeindrucken – die beiden kannten sich aus gemeinsamen Jugendjahren bei der Spvgg. Fürth bestens. Als Karl Ringel zum ominösen Punkt schritt, versuchte Erhardt ihn zu verunsichern: „Schiaß daneben, ihr habt´s eh koane Chance!“ Ausdruck der offenbar schon damals ausgeprägten „Mia san mia“-Mentalität. Doch Karl Ringel bleibt cool schickt Mayer in die falsche Ecke und netzt flach unten links ein. Nach diesem Führungstreffer machten die Neunkirchner erst recht dicht. Ringel, der zwar die Nummer 9 trug, und Melcher schirmten hinten ab, Pidancet war einzige Sturmspitze. Franz Beckenbauer hatte sich seiner angenommen.

Wütende Bayern-Attacken waren die Antwort, Dauerfeuer auf den Kasten von Willi Ertz, der gemeinsam mit seiner Defensive bis zum Pausenpfiff sein Tor sauber hielt. Als die Borussen nach einer Stunde immer noch führten, ordnete Horst Buhtz verstärkt Konter an. Borussias Trainer hatte den Gegner beim Spiel in Neu-Isenburg beobachtet und die Anfälligkeit für schnelles Konterspiel (heute würde man von „Umschaltspiel“ sprechen) entdeckt und festgestellt: „Beckenbauer im Abwehrzentrum ist noch zu grün hinter den Ohren.“  Diese Taktik sollte aufgehen! Die Vorstöße der Borussen wurden häufiger. Sogar Mittelläufer Leist fasste sich ein Herz, stürmte nach vorne, wurde nicht attackiert, ging an Drescher und Beckenbauer vorbei und hob das Leder geschickt über Sepp Maier hinweg – während dem Bayern-Anhang der Atem stockte, sprang die Kugel von der Latte zurück in die Arme des Münchener Torhüters!

Die Entscheidung an der Grünwalder Straße: Zwischen Franz Beckenbauer und Sepp Maier rutscht die flache Hereingabe von Volker Münz durch, Günter Kuntz (nicht im Bild) muss nur noch einschieben (Bild oben) – Riesenfreude bei den Borussen (im Hintergrund), Frust bei den Bayern (Bild unten). (Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

Die Entscheidung fiel dann nach 77 Minuten: Nach einem Flankenlauf von Münz, der anstelle des formschwachen Elmar May spielte und von Erwin Glod auf der rechten Seite in Szene gesetzt worden war, fand der Ball Günter Kuntz im 5-Meter-Raum völlig frei, Borussias Stürmer hatte keine Mühe, aus kurzer Distanz einzunetzen. Die Bayern hätten, so heißt es im „Kicker“, vom erfolglosen Anrennen „deprimiert elf Minuten vor Schluß die endgültige Entscheidung hingenommen. Sie protestierten nicht einmal, weil Torschütze Kuntz klar im Abseits gestanden hatte.“ Eine Situation, die allerdings sogar für den Mann an der Führungskamera des Bayrischen Rundfunks zu schnell ging: Die Fernsehaufzeichnung konnte lediglich Zeitlupenbilder aus der Hintertor-Perspektive zeigen – eine Abseitsstellung ist hier natürlich nicht zu erkennen. Und den Kölner Videokeller hätte sich in dieser Zeit kein Funktionär auch nur in kühnsten Träumen vorstellen können! Mit dem zweiten Treffer war das Rennen gelaufen, auch wenn die Münchner danach noch zwei Riesenchancen hatten: Ertz wehrt mit dem linken Fuss reaktionsschnell einen Linksschuss von Brenniger bravourös ab, der Nachschuss von Ohlhauser landet an der Querlatte, dann können die Borussen klären.

Glück für Sepp Maier: Mittelläufer Erich Leist wagt sich nach vorne und trifft mit diesem Heber über den Bayern-Keeper hinweg nur die Latte. (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

Natürlich äußerte sich Borussen-Coach Horst Buhtz nach den 90 Minuten mehr als zufrieden: „Meine Mannschaft hat taktisch klug gespielt. Ertz wuchs über sich hinaus. Zur Tüchtigkeit kam auch das Glück. Die Bayern fanden kein Rezept, ihre Flügelstürmer hatten zu wenig Wirkung“, diktierte der Trainer dem „kicker“-Reporter in den Notizblock. Bayerns kugelrunder Coach Tschik („Stummel“) Cajkovski fühlte sich „vom Kollegen Buhtz reingelegt“, blieb aber trotz der Niederlage optimistisch: „Wir werden daraus lernen, haben nach wie vor alle Trümpfe selbst in der Hand.“ Eine Woche später musste er sein Urteil revidieren: „Langes Ertz hat gekostet FC Bayern eine Jahr Bundesliga!“. Sein Präsident Wilhelm Neudecker haderte mit manchen Entscheidungen des Unparteiischen, wollte aber „die große Abwehrleistung des Gegners dadurch nicht geschmälert“ wissen. Für die Borussen stand jetzt vor den noch ausstehenden Spielen auf St. Pauli und zuhause gegen Tasmania Berlin das Tor zur Bundesliga wieder offen. Die „kicker“-Prognose: „Borussia Neunkirchen steigt auf, wenn es gegen St. Pauli unentschieden spielt und Tasmania bezwingt. Gleichzeitig aber müßte Bayern München bei Tasmania verlieren und gegen St. Pauli unentschieden spielen. Gewinnt Borussia beide Spiele, würde Bayerns Niederlage in Berlin schon genügen!“ Eine Niederlage des Favoriten aus München in Berlin konnte sich jedoch eigentlich keiner so richtig vorstellen. Aber im Fußball ist alles möglich – diese Binsenweisheit sollte sich auch vor 60 Jahren bestätigen. (-jf-)

Statistik: FC Bayern München – Borussia Neunkirchen 0:2 (0:1)

Borussia: Willi Ertz – Erwin Glod, Erich Leist, Dieter Schock, Hans Schreier, Günter Schröder, Achim Melcher, Karl Ringel, Günter Kuntz, Volker Münz, Paul Pidancet. – Trainer: Horst Buhtz.

FC Bayern: Sepp Maier – Herbert Erhardt, Adolf Kunstwadl, Peter Kupferschmidt, Franz Beckenbauer, Jakob Drescher, Otto Jaworski, Dieter Koulmann, Rainer Ohlhauser, Dieter Brenninger, Karl Schneider. – Trainer: Tschik Cajkovski.

Tor: 0:1 (23.) Karl Ringel (Handelfmeter), 0:2 (77.) Günter Kuntz. – Schiedsrichter: Karl Niemeyer (Bad Godesberg). – Zuschauer: 25.000.

Bewegte Bilder vom Spiel im Stadion an der Grünwalder Straße gibt es auf dem Retro-Kanal des Bayrischen Rundfunks (BR):

https://www.ardmediathek.de/video/br-retro/fc-bayern-muenchen-borussia-neunkirchen-0-2/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzVlN2FiN2NhLThjZmEtNDcxMi05YTA4LTc3Mzg5MzExNzlmYQ