Sternstunde Aufstiegsrunde (3)

Aus der Historie – Borussia steigt in die Bundesliga auf / Kleine Serie, Teil 3 – heute vor 60 Jahren: Nach dem 0:1 gegen Bayern München scheint das Rennen gelaufen – nur noch theoretische Chancen für die Borussen

Unser Bild: Rainer Ohlhauser (re.), hier im Zweikampf mit Günter „Schäumche“ Schröder, erzielte für die Bayern im Ludwigspark das goldene Tor – die Aufstiegsweichen für den Favoriten aus München schienen jetzt gestellt! (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

Mit dem 4:1-Sieg im Saarbrücker Ludwigspark über Nordmeister FC St. Pauli hatten die Borussen nicht nur die 1:5-Scharte vom Auftakt bei Tasmania Berlin ausgewetzt, sondern auch ihre Aufstiegschance gewahrt. Jetzt wartete mit dem FC Bayern der Favorit der Gruppe 2 auf die Borussen. Die Münchener, die vor der Regionalliga-Saison 1963/64 ihren Spielmacher Peter Grosser an den Lokalrivalen 1860 abgeben mussten (ein Wechsel, der hohe Wellen schlug!), waren hinter Hessen Kassel Vizemeister im Süden geworden.

Es hätte auch der Meistertitel sein können, aber am vorletzten Spieltag unterlagen Sepp Maier, Franz Beckenbauer & Co. nach einem fröhlichen Scheibenschießen der TSG Ulm mit 4:6 – eine Niederlage, die vollauf beabsichtigt war! Denn als Meister wären die Bayern in der vermeintlich stärkeren Aufstiegsrundengruppe 1 gelandet, in der man vor allem Westmeister Alemannia Aachen fürchtete. In seiner 1997 erschienenen Geschichte des Rekordmeisters („Die Bayern: Vom Klub zum Konzern“) weiß Autor Dietrich Schulze-Marmeling anlässlich der 4:6-Heimpleite gegen Ulm von einem Kuriosum zu erzählen: Der dreifache Torschütze der Bayern, Otto Jaworski, habe von der strategisch geplanten Niederlage nichts gewusst! „Jaworski war lediglich Ersatzspieler, der nur auflaufen durfte, weil die halbe Stammelf an diesem Tag die Bank drücken musste. Zunächst waren nur Kapitän Kunstwadl und zwei weitere Spieler eingeweiht, aber Jaworskis unerwarteter Torhunger erforderte eine offenere Informationspolitik. Nachdem Jaworski in der 73. Minute das 4:3 erzielt hatte, wurden auch die anderen Bayern-Spieler unterrichtet, so dass die Gäste aus Ulm in den verbleibenden Minuten noch dreimal zulangen konnten“, erzählt Schulze-Marmeling. Jaworski, der später im Südwesten noch für den TSC Zweibrücken, TuS Neuendorf und den 1. FC Saarbrücken spielte und als Trainer u. a. in Bingen, Wissen, Eisbachtal und Engers aktiv war, durfte auch am letzten Spieltag nochmal ran: Beim 3:3 der Bayern in Neu-Isenburg erzielte der offensichtlich unterschätzte Stürmer alle drei Treffer für die Münchener!

Banger Blick zurück: Der junge Franz Beckenbauer feierte in der Ausstiegsrunde sein Debüt und wusste: Auch in dieser Szene ist auf seinen Torhüter Sepp Maier Verlass! (Foto: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

In der Aufstiegsrunde ging der Stern eines jungen Mannes von gerade mal 18 Jahren auf, der später Weltruhm erlangen sollte: Franz Beckenbauer! Als „Giesinger Junge“ war er Fan der 60er, hätte auch beinahe das blaue Trikot übergestreift, wäre da nicht die berühmte Ohrfeige gewesen. Als Franz 13jährig mit seinem Jugendclub SC 1906 München gegen die Löwen spielte, verpasste ihm ein Gegenspieler eine schallende „Watsch´n“, die sein Verhältnis zu den Blauen arg trüben sollte, denn noch auf dem Spielfeld war das Riesentalent fest entschlossen, niemals zum TSV 1860 zu wechseln. Um in der Aufstiegsrunde gegen St. Pauli, Borussia und Tasmania mitwirken zu können, benötigte Beckenbauer, der nur wenige Tage vor Rundenbeginn an Pfingsten 1964 bei einem Turnier sein letztes Spiel in der Jugendmannschaft der Bayern bestritten hatte, eine Sondergenehmigung des Süddeutschen Fußballverbandes, da er nach dem Stichtag geboren war Trainer Tschick Cajkovski war zunächst wenig begeistert von seinem jungen Schützling. „Haben schon gehört, Sie sind kein Kämpfer“, begrüßte er den Nachwuchsspieler beim ersten Training. Nicht nur das: Der kugelrunde Jugoslawe verdonnerte das Leichtgewicht beim gemeinsamen Abendessen im Salvatorkeller am Nockherberg zu einer regelrechten „Fresskur“: „Eigenhändig schleppte er doppelte Portionen an meinen Tisch und forderte mich unentwegt auf: Essen Sie!“, erinnerte sich Beckenbauer an diesen Abend, spürte aber auch, dass ihm die kräftigen Mahlzeiten guttaten: „Ich merkte von Woche zu Woche, dass ich den körperlichen Anforderungen besser gewachsen war.“ Das Gastspiel in Saarbrücken war für den späteren Nationalspieler erst die dritte Partie in der ersten Mannschaft des FC Bayern!

Abgeblockt: Borussias Stürmer Horst Berg scheitert an Franz Beckenbauer (oben), der zusammen mit Torwart Sepp Maier auch im Luftkampf gegen Günter Kuntz (Nr. 11) und Horst Berg (Nr. 9) die Oberhand behält. Rechts beobachten Elmar May und Paul Pidancet die Situation (unten). (Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

Da konnte freilich noch keiner etwas von dem dramatischen Verlauf der Aufstiegsrunde ahnen. Dass es so kam, hatte auch etwas mit einer Terminkollision im Saarland zu tun, wie Paul Burgard und Ludwig Linsmayer in ihrem Bilderbuch „90 Minuten – mit Ferdi Hartung in die Bundesliga“ zu erzählen wissen: „Ursprünglich sollten die Borussen nämlich zuerst an der Grünwalder Straße und dann im Ludwigspark gegen die Bayern antreten – ein Fahrplan, der geändert werden musste, da am 20. Juni im Park ein internationaler Leichtathletik-Länderkampf Deutschland gegen Italien stattfand.“ Der DFB verweigerte zunächst eine Verlegung, verwies die Borusse stattdessen für das Bayern-Spiel zurück ins eigene Ellenfeld, dessen bereits begonnene Umbaumaßnahmen sich aber verzögert hatten. Präsident Norbert Engel tobte: „Da gehen uns angesichts der geringeren Zuschauerkapazität 200.000 Mark verloren, wo wir im Südwesten ohnehin der Armut ausgeliefert sind!“ Der DFB gab schließlich nach und stimmte der Planänderung zu.

Eine Schlüsselszene: Erich Leist scheitert mit einem Elfmeter an Bayern-Keeper Sepp Maier, der die Ecke ahnt und pariert – im Hintergrund schaut Franz Beckenbauer gespannt zu, während Paul Pidancet (in der Hocke) kaum hinsehen kann (oben). Die anschließende Freude der Münchener ist groß: Gratulation an Sepp Maier (unten). (Fotos: Ellenfeld-Verein e.V. / Archiv Borussia Neunkirchen Hartung)

So gaben die Münchener bereits am 14. Juni ihre Visitenkarte im Ludwigspark ab. „Und das mit ziemlich viel Routine, einer glänzenden taktischen Einstellung und einem großartigen Torwart zwischen den Pfosten“, resümieren Paul Burgard und Ludwig Linsmayer. Denn während Sepp Maier zahlreiche gute Gelegenheiten der Borussia zu parieren wusste, machte auf der Gegenseite Horst Kirsch jenen entscheidenden Patzer, der zum 0:1 führte: Das von seiner Brust abgeprallte Leder nutzte Rainer Ohlhauser schon nach gut 20 Minuten zum „Tor des Tages“. Die Bayern agierten clever verteidigten den Vorsprung mit Glück und Geschick und einer „Katze von Anzing“ im Tor, der es nach 70 Minuten sogar gelang, einen (allerdings zweifelhaften) Elfmeter von Erich Leist abzuwehren.

Klar, dass die Reaktionen der beiden Trainer sehr konträr ausfielen. „Auf der einen Seite der sonst immer so gelassene Borussen-Coach Horst Buhtz, der fassungslos über die Fehler einiger seiner Spieler räsonierte. Auf der anderen Seite ein gut gelaunter Zlatko Cajkovski, der das hohe Lied von seiner gelungenen Spieltaktik sang, die er so passgenau zusammengezimmert hatte, nachdem sein Bruder Zeljko eben jene Borussen zweimal ausspioniert hatte, die er drei Jahre später selbst betreuen sollte“, berichten Burgard und Linsmayer. Das Aufstiegsrennen schien jetzt eigentlich bereits gelaufen zu sein. Das sah auch die Presse so, die der Borussia lediglich noch eine Minimalchance einräumte und davon sprach, „dass den Borussen jetzt eigentlich nur noch ein Wunder helfen kann“, so die „Saarbrücker Zeitung“ (SZ), die immerhin die Rechnung aufmachte, wie dieses Wunder noch möglich sei: „Bei drei eigenen Siegen, also schon am kommenden Samstag in München als Revanche, müssten dann die Münchener noch in Berlin bei der Tasmania verlieren. Eine Rechnung mit `wenn´ und `aber´, doch immerhin eine Rechnung, die theoretisch noch aufgehen könnte.“ Ob die SZ-Redaktion da die Glaskugel bemüht oder gar beim Orakel in Delphi nachgefragt hatte? Oder wollte sie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung abgeben – in der Hoffnung, durch eine geradezu beschwörende Prognose entscheidenden Einfluss darauf zu nehmen, dass sie auch eintritt? (-jf- / Fortsetzung folgt!)

Statistik: Borussia Neunkirchen – FC Bayern München 0:1 (0:1)

Borussia: Horst Kirsch – Erwin Glod, Erich Leist, Dieter Schock, Hans Schreier, Günter Schröder, Karl Ringel, Horst Berg, Günter Kuntz, Elmar May, Paul Pidancet. – Trainer: Horst Buhtz.

FC Bayern: Sepp Maier – Herbert Erhardt, Adolf Kunstwadl, Peter Kupferschmidt, Franz Beckenbauer, Jakob Drescher, Otto Jaworski, Dieter Koulmann, Rainer Ohlhauser, Dieter Brenninger, Karl Schneider. – Trainer: Tschik Cajkovski.

Tor: 0:1 (21.) Rainer Ohlhauser. – Schiedsrichter: Günter Baumgärtl (Hagen). – Zuschauer: 20.000 im Saarbrücker Ludwigspark.